Es gibt keinen Plural von Heimat? Der Duden sieht es zwar anders, doch kann die Frage, was eine Heimat eigentlich ist darüber hinaus auch nicht beantworten. In jedem Falle verbirgt sich in Zeiten der Globalisierung und internationaler Krisen ein ebenso brisanter wie emotionaler Begriff dahinter. Höchste Zeit also, auf die Suche nach der Heimat zu gehen – und das am besten ganz persönlich.
Inzwischen hat es auch die Bundeskanzlerin ausgesprochen: Deutschland ist ein Einwanderungsland. Schon im vergangenen Jahr hat die F.A.Z. darauf verwiesen, dass die Bundesrepublik laut einer OECD-Studie im Jahr 2012 hinter den USA das zweitbeliebteste Ziel von Zuwanderern aus aller Welt ist. Auf dieses Ergebnis könnten die Deutschen stolz sein, zeugt es doch immerhin davon, dass sie in einem sicheren und wirtschaftlich starken Land leben. Viele von ihnen sind es sicherlich auch und doch führt Zuwanderung hierzulande immer wieder zu Debatten – und das nicht erst seit viele Tausend Flüchtlinge bei uns Schutz vor Gewalt und Armut suchen. Unabhängig davon, ob es offen ausgesprochen wird, drehen sich viele dieser Diskussionen um die Heimat, einen Begriff, der zunächst ebenso persönlich wie traditionell klingt.
My home is my castle
Wer nach der Bedeutung dahinter sucht, muss jedoch gar nicht auf die Krisen in der Welt blicken. Jeder Mensch braucht eine Heimat und überall auf der Welt ist er auf der Suche danach. Das gilt ganz besonders für junge Menschen auf dem Weg in das eigene Leben. Wie wäre es also damit, sich der Heimat quasi im Selbstversuch zu nähern, aus Studentensicht. Die meisten von uns werden bei Heimat an die Gegend denken, in der sie aufgewachsen sind. In meinem Fall ist das eine Stadt mit ca. 65.000 Einwohnern, vielen Kirchen, viel Grün und einer barocken Innenstadt samt Stadtschloss. Doch so schön die Orte für sich genommen sein mögen, zur Heimat werden sie erst durch etliche Erinnerungen und vor allem die Familie und Freunde vor Ort. Jeder hat dabei ganz eigene Erinnerungen und doch haben all unsere Nostalgie und Heimatgefühle, wenn es um die Kindheit geht einen wichtigen gemeinsamen Nenner: Sicherheit.
Wer vom eigenen Geburtsort als Heimat spricht, erzählt sehr oft von seinem ganz persönlichen Rückzugsort. Auf die Unterstützung der Eltern ist auch nach dem Auszug Verlass, sei es finanziell oder emotional. Häufig bleiben zumindest im Kern auch die Strukturen des Freundeskreises aus Schulzeiten bestehen. Mit all diesen Menschen teilen wir eine Vielzahl gemeinsamer Erfahrungen und teilweise noch immer eine ähnliche Lebenssituation. Wenn sich im eigenen Leben vieles ändert, werden sie zu wichtigen Beratern und geben uns das Gefühl, dass es einen Ort gibt, an den wir zurückkehren können, ganz egal, was passiert. Genau deshalb fahren viele Studenten so oft wie möglich zurück oder wohnen laut einer Studie des DZHW aus dem Jahr 2013 während des Studiums gleich bei den Eltern. Sind Studenten damit zu Nesthockern geworden? Nicht so ganz, denn es gibt da auch noch einen anderen Trend. Immer mehr junge Menschen zieht es vor allem aus ländlichen Gegenden in die Großsstädte und viele von ihnen kehren auch später nicht zurück. Sie verlassen also ihre gewohnten Sicherheiten, doch kehren sie damit auch ihrer Heimat den Rücken?
Die ganze halbe Wahrheit
Wohl kaum, denn Heimatgefühle haben auch noch eine andere Seite. Auf die Dauer fühlen wir uns nur dort zuhause, wo wir Möglichkeiten sehen, uns weiterzuentwickeln. Das beginnt mit der Suche nach dem passenden Ausbildungs- oder Studienplatz und setzt sich nicht selten bei der Berufswahl fort. Auch wenn wir uns in unserer momentanen Heimatstadt sehr wohl fühlen, kann uns die Suche nach neuen persönlichen Möglichkeiten an andere Orte führen. Mit ihrer Fülle an genau diesen Chancen kann eine Metropole einer Kreisstadt schon einmal den Rang ablaufen. Entgegen einer immer wieder einmal im studentischen Umfeld irrlichternden Ansicht, müssen wir uns dabei aber keineswegs zwischen neuen Perspektiven und alten Sicherheiten entscheiden. Der Begriff einer neuen Heimat ist nämlich insoweit irreführend, als die alte beim Umzug gar nicht verlorengeht. Auch wenn es in der Kindheit so scheint, ist Heimat nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern findet in unseren Köpfen statt. Ihre beiden Seiten sind auch nicht als Widerspruch zu verstehen, sondern ergänzen sich vielmehr. Den Mut, sich auf neue Möglichkeiten einzulassen, finden wir oft nur mit der nötigen Sicherheit im Rücken. Andererseits wird aus einem Rückzugsort schnell ein Käfig, wenn alle Veränderungen ausgesperrt sind. Genau deshalb fühlen wir uns manchmal erst dann richtig zuhause, wenn wir zwei „Heimaten“ kennen.
Kolumne: Müller will reden
Meinung ist tot? Nicht mit uns, denn unser Chefredakteur Michael Müller ist überzeugt, dass es Dinge gibt, die man nicht wissen kann, aber über die es sich zu reden lohnt. In Zeiten harter Fakten glaubt er an das lose Mundwerk, denn wohin sonst mit all den gesammelten Informationen? Mal geht es um Wichtiges, mal um den Rest, aber immer gilt: Keine Angst, Müller will nur reden. Die Kolumne erscheint immer donnerstags und wird von Isabell Beck illustriert. Alle Folgen von “Müller will reden” zum Nachlesen.
Damit wären wir nun doch wieder bei der Einwanderungsdebatte, die sich mit diesem Plural (der übrigens durchaus im Duden zu finden ist) gelegentlich etwas schwer tut. Wer die Heimat als einen gefühlsbetonten Ort versteht, wird ihn allerdings gar nicht brauchen. Den vielen Flüchtlingen fehlt es jedenfalls schon in der Einzahl an einer Heimat, denn sonst hätten sie diesen Weg nicht auf sich genommen. Dass es sich bei dieser Suche um ein menschliches Grundbedürfnis handelt, weiß jeder, der sich schon einmal verloren gefühlt hat. Im Gegensatz zu uns haben Flüchtlinge jedoch jeden Rückzugsort verloren, wobei es ganz egal ist, ob es durch Gewalt oder Armut dazu kam. Sie suchen beide Seiten der Heimat bei uns, Sicherheit und Perspektiven. Diese Hoffnung macht Deutschland zum Einwanderungsland und wird es so auf lange Sicht prägen. Als eine Heimat für alle, die hier Leben, mit Vergangenheit ebenso wie Zukunft.