Müller will über „Fehler“ reden

Text: Michael Müller - Illustration: Isabell Beck
Text: Michael Müller – Illustration: Isabell Beck

Irren ist menschlich? Von wegen! „Höher, schneller, weiter“ lautet die Formel des Fortschritts, erst recht am Beginn des Berufslebens. Ist der antike Sinnspruch damit endgültig antiquiert oder der moderne Zeitgeist einfach unmenschlich? Vielleicht treffen sich hier ja doch nur Klischees. Auf jeden Fall ein guter Grund, zu reden.

Ein großes Ziel der Schulzeit lautet, auf das Leben danach vorzubereiten. Deshalb steckt ein Schülerdasein voller Erfolgsrezepte für den späteren beruflichen und persönlichen Werdegang. Die meisten davon lassen sich nicht durch zeit- und nervenkostendes Pauken von Fachwissen lernen, sondern sind in Arbeitsweisen oder zwischen den Zeilen des Lernstoffs versteckt. Ganz besonders gilt das für die Mathematik, die mit etlichen Tipps über das Wie des Rechnens aufwartet. Quasi in der Natur der Sache liegt, dass die meisten davon der Schadensbegrenzung im Falle eines Fehlers dienen. Die vielleicht heiligste dieser Regeln gibt an: Immer den Rechenweg aufschreiben! Nur so lässt sich später ausfindig machen, welcher Fehler nun genau zum falschen Ergebnis geführt hat – und vor allem, was trotzdem richtig war. Ohnehin vermittelt die Schule ein lockeres Verhältnis zum Fehler als Teil des Lernens.Dass diese Methode nach Versuch und Irrtum eine Menge mit intuitiven Lernprozessen zu tun hat zeigt schon ein Blick auf noch kleinere Kinder, die sich ihre Umwelt spielerisch erschließen.  Doch auch später führt beim Erlernen neuer Kenntnisse oft nichts an holprigen ersten Anläufen vorbei.Natürlich sind nicht alle Irrtümer lehrreich. Trotzdem könnte der Fehler durchaus besser sein, als der miserable Ruf, den er in der Erwachsenenwelt hat.

Kann passieren, darf aber nicht?

Anders als in der Schulzeit kommt es im Berufsleben nämlich doch häufig auf das Endergebnis an. Manchmal beginnt das sogar bereits im Studium, obwohl es sich dabei noch um ein Ausbildungsverhältnis handelt. Schon hier zeigt sich vielerorts eine Ergebniskultur, die für Fehler nichts Gutes mehr übrig hat. Das Ziel lautet, möglichst schnell und erfolgreich durch die verschachelte Modulstruktur des Studiums zu kommen. Am Ende soll eine Spitzennote stehen und Fehler sind auf diesem Weg bestenfalls ineffizient, vielleicht sogar eine Gefahr für den Schnitt. Wenn wundert es da, wenn aus einem inhaltlichen Studieneifer schnell einmal ein strategischer wird. Große, zunehmend anonyme Seminargruppen und gelegentliche Stellenausschreibungen, die schlicht einen akademischen Abschluss verlangen, scheinen diese Kulur ja ebenfalls zu bestätigen.Allerdings vergisst diese einfache Rechnung einen ganz wichtigen Einfluss auf die Studienbedingungen, der rein gar nichts mit der selbsterklärten späteren Arbeitskultur zu tun hat: die wachsende Zahl der Studenten.Dass größere Seminargruppen die Betreuung des Einzelnen erschweren, kann schlicht einem Mangel an Kapazitäten geschuldet sein. Auch die unterschiedslose Suche der Wirtschaft nach Studienabsolventen ergibt sich zum Teil wohl daraus, dass für immer mehr deutsche Abiturienten ein Studium anschließen. Eine Entwicklung, an die sich der Arbeitsmarkt anpasst. Keiner dieser Gründe spricht dafür, dass deshalb nur noch die Studiennote und nicht mehr der Weg dorthin zählt. Hat das Ergebnis unter kleineren Fehlern gelitten, ist das vielleicht erklärungsbedürftig aber sicher nicht unverzeihlich. Also doch, eins zu null für die Mathelehrer.

Kein Erfolg ohne Fehler?

Eine gute Fehlerkultur betont letztlich den Lösungsweg. Fehler werden dabei nicht beschönigt, sondern eingegrenzt, um sie später gezielt zu vermeiden. Vor allem in der komplexen und wechselhaften modernen Wirtschaft, sind Firmen auf dieses Verfahren regelrecht angewiesen, um flexibel auf neue Herausforderungen zu reagieren. In einem solchen Umfeld liegen immer wieder Fehler auf der Hand. Sie aus dem Alltag verbannen zu wollen ist unfair für die Mitarbeiter und unklug für das Unternehmen. Bereits seit der Antike gilt Irren als menschlich, doch der Umkehrschluss wird selten gezogen. Ein Diktat der Fehlerlosigkeit ist dann nicht nur unmenschlich, sondern einfach unmöglich. In einer solchen Kultur müssen Fehler deshalb vertuscht werden; mit schwerwiegenden Folgen.

Kolumne: Müller will reden

Meinung ist tot? Nicht mit uns, denn unser  ehemaliger Chefredakteur Michael Müller ist überzeugt, dass es Dinge gibt, die man nicht wissen kann, aber über die es sich zu reden lohnt. In Zeiten harter Fakten glaubt er an das lose Mundwerk, denn wohin sonst mit all den gesammelten Informationen? Mal geht es um Wichtiges, mal um den Rest, aber immer gilt: Keine Angst, Müller will nur reden. Die Kolumne erscheint immer donnerstags und wird von Isabell Beck illustriert. Alle Folgen von “Müller will reden” zum Nachlesen.

Im Matheunterricht war ohne Lösungsweg unter Umständen das ganze Ergebnis verloren. In der Praxis kann es ganz ähnlich aussehen. Denn wenn Arbeitsabläufe nicht sauber dokumentiert sind, lautet die logische Konsequenz aus einem Misserfolg, die gesamte Methode zu verwerfen. Vielleicht war aber nur ein kleiner Irrtum der Auslöser für das Scheitern eines ansonsten sehr erfolgversprechenden Vorgehens. Dann ist es ineffektiv oder gar schädlich, es nicht weiterzuentwickeln. Anders gesagt, können wir aus Fehlern eben nicht lernen, wenn wir sie nicht präzise eingrenzen. Ein weiteres Problem liegt darin, dass ohne Fehlerkultur auch keine nachhaltige Erfolgskultur existiert. Wer nur den sichtbaren Erfolg sucht, ohne nach seiner Entstehung zu fragen, läuft Gefahr, sich an schnellen Ergebnissen zu orientieren. Dass diese Strategien nicht immer dauerhaft greifen, zeigt schon ein Blick in die jüngere wirtschaftliche Vergangenheit. Außerdem geht auch der Wert eines Erfolges verloren, wenn nicht mehr deutlich wird, wie viel harte Arbeit dafür nötig war. Beides kann der Unternehmenskultur schaden.

Am allerwenigsten nutzt die Fehlerangst jedoch dem Einzelnen. Wer sich keine Fehler zugesteht, setzt sich unter großen Druck, und wer sie leugnet, nimmt zuallerst sich selbst die Chance, aus ihnen zu lernen. Irren ist zwar meschnlich, aber nicht unausweichlich. Deshalb ist es wichtig, die eigenen Fehler zu akzeptieren, um an ihnen arbeiten zu können. Wer konnte schon beim ersten Versuch radfahren? Auch alle guten Arbeitgeber wissen, dass manchmal etwas schief geht. Fehler sind weder umsonst, denn sie sind lehrreich, noch kostenlos, denn sie kosten uns Mut. Den Mut, auch einmal unbequem menschlich zu sein.

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