Kommentar zum anstehenden EU-Austritt Großbritanniens
Demokratie am eigenen Leib zu erfahren, ist nicht immer ein Erfolg. Wer kann sich nicht an Klassensprecher erinnern, die so lange über das Ziel eines Wandertags abstimmen lassen, bis ihnen das Ergebnis passt? Gerade dürfte sich der britische Premierminister David Cameron allerdings mit Wehmut an diese Zeiten erinnern. Vergangenen Donnerstag haben sich die Briten mit einer (denkbar knappen) Mehrheit von 52 Prozent der abgegebenen Stimmen für einen Austritt aus der Europäischen Union entschieden. Obwohl sich inzwischen bereits mehr als 1,5 Millionen Briten einen zweiten Durchgang wünschen, wird es wohl nicht dazu kommen. Welche Folgen nach den Austrittsverhandlungen auf Politk und Wirtschaft beider Seiten zukommen, ist noch nicht absehbar. Allerdings ist der Brexit schon jetzt ein drastischstes Beispiel dafür das Volkes Wille auch trennen könnte, was eigentlich zusammengehört.
No Englishman Is an Island
In jedem Fall haben die Brexiteers auch auf dem Festland ihre Anhänger. In etlichen anderen EU-Staaten forderten rechtspopulistische Kräfte umgehend ein eigenes Referendum, am lautesten vielleicht in Frankreich, Italien und den Niederlanden. Ihr Argument ist dabei stets das gleiche: Wer zurück zur nationalen Stärke will, muss den lästigen Staatenbund loswerden. Hinter viel Gepolter um tradierte Werte, lauert zumeist nur das Versprechen, unerbittlich um den nationalen Vorteil zu schachern. Damit ist allerdings die gefährliche Illusion verbunden, diese Vorteile im Alleingang erwirtschaften zu können. In einer Welt, die bereits jetzt komplexer vernetzt ist als jemals zuvor, spielt das Versprechen vom Nationalstaat auf gefährliche Weise mit einem weit verbreiteten Phantomschmerz.
Beim Einzelnen können Ungewissheit und Risiken schnell zu einer Angst führen, welche die Chancen zu überwiegen scheint. Das Wecken der Hoffnung, sich im Alleingang davon loszusagen, spielt auf riskante Weise mit durchaus berechtigten Sorgen. Das Versprechen, durch die eigene Isolation lange zusammengewachsene Einflüsse aufzuheben, ist schlicht verantwortungslos. Die erste Konsequenz des Austritts liegt vor allem darin, in der EU eben jene laute Stimme zu verlieren, für welche die Briten so gefürchtet waren. Mittelfristig wird diese Erkenntnis das Ansehen der Politik kaum bessern können. Das Vertrauen in die Fähigkeit gewählter Volksvertreter, mit den komplexen Herausforderungen der Welt angemessen umzugehen, gehört jedoch zum Kern jeder Demokratie. Dazu gehört das Eingeständnis der Politik, dass Lösungen nicht für immer sind, aber auch das Versprechen, bei Bedarf besonnen nachzubessern. Demgegenüber hilft der Brexit nur von unliebsamen Entwicklungen abgehängt zu werden. Unabhängig macht er deshalb noch lange nicht.
Disunited Kingdom
Innerhalb Großbritanniens bleibt eine Abstimmung, die beinahe ebenso viele Verlieren wie Gewinner kennt. Da wundert es nicht, dass Nordirland und Schottland, in denen mehrheitlich gegen einen Austritt gestimmt wurde, bereits laut über eine Zukunft jenseits des Vereinigten Königreichs nachdenken. Vor allem die Jungen sehen sich in weiten Teilen mit einer Zukunft konfrontiert, die sie selbst nicht gewollt haben. Einerseits haben immerhin 64 Prozent der Wähler unter 24 Jahren für den Verbleib in der EU gestimmt. Andererseits ist Großbritannien auch bei der Jugend jenseits der eigenen Grenzen beliebt. Als Beispiel sei nur erwähnt, dass 19 Prozent der Studierenden an britischen Hochschulen aus dem Ausland kommen. Zwar bedeutet der Brexit nicht zwingend den Ausstieg aus ERASMUS, doch in jedem Fall wird der gegenseitige Austausch nun für beide Seiten erschwert. Das allerdings durch eine Entscheidung, die am stärksten von Wählern unterstützt wurde, die das 50. Lebensjahr überschritten haben. So betrachtet kann gerade den Jungen in anderen Ländern das Ergebnis als deutliches Zeichen dienen.
Ja, die Mehrheit der Briten hat sich für eine Zukunft außerhalb der EU entschieden. Und ja, dabei handelt es sich um ein demokratisches Ergebnis, das unbedingt zu respektieren ist. Aber es war denkbar knapp und gerade die jungen Briten hätten es sich anders gewünscht. Wir haben immer ein Recht, an einer Zukunft mitzuwirken, die vor allem uns betrifft. Wenn es darum geht, zu einfache Lösungen zu verhindern, vielleicht sogar die Pflicht. Dabei ist aus Sicht der Jugend tragisch und tröstend zugleich: Die meisten Spalter waren keine von uns.