Kein Prosit der Gemütlichkeit – Volksfeststimmung in Zeiten von Corona

Ein vertrautes Bild aus besseren Zeiten: Schwabens größtes Volksfest, der Augsburger Plärrer – damals noch mit Bierzelten und in voller Größe.
© Thomas Koristka

Viele Branchen wurden durch die Corona-Pandemie hart getroffen. Monatelange Einnahmeausfälle machen besonders den Schaustellerbetrieben zu schaffen, einige bangen sogar um ihre wirtschaftliche Existenz. In Augsburg hat man deshalb neue Wege eingeschlagen: Auf mehreren zentralen Plätzen bietet die Stadt den Gewerbetreibenden derzeit die Möglichkeit, ihre Stände zu präsentieren. Was bleibt, ist die Hoffnung auf Schadensbegrenzung – und auf bessere Perspektiven.

„Neue Fahrt, neue Runde, neue Reise! Jetzt wieder einsteigen, zusteigen, Platz nehmen, bitte!“, hallt es mit einem dröhnenden, langegezogenen Echo durch die Lautsprecher eines Fahrgeschäfts. Auf den letzten Drücker setzen sich noch zwei Jugendliche in eine Gondel und drücken rasch ihre Sicherheitsbügel herunter. Nun kann die Fahrt im sogenannten „Flipper“ losgehen. Die Musik wird lauter, einige schrille Soundeffekte ertönen, die Gondeln setzen sich langsam in Bewegung.

Vom nicht weit entfernten Süßwarenstand duftet es indes herrlich nach Zuckerwatte und gebrannten Mandeln. Jugendliche, Familien und Senioren schlendern an diesem strahlend schönen Spätsommertag über den Kleinen Exerzierplatz, einige in toller traditioneller Tracht. Spielbuden und Fahrgeschäfte laden zum Vergnügen ein, während die zahlreichen kulinarischen Schmankerl diverser Imbissstände den Appetit anregen.

Alles wie immer zur Plärrerzeit, könnte man fast meinen. Doch in diesem Jahr ist so einiges anders. Richard Krolzig kann davon ein Lied singen: „Also wir betreiben hier ja eine Achterbahn. Und eine Achterbahn ist eigentlich symbolisch für all das, was wir durchgemacht haben in der letzten Zeit: Es ist eine Achterbahnfahrt der Gefühle gewesen.“ Der gebürtige Bad Hersfelder ist Projektmanager und arbeitet für eine Hamburger Schaustellerfirma. Er kümmert sich um den Betrieb der bekannten Achterbahn „Wilde Maus“ und sitzt gerade in seinem Kassenhäuschen. Immer wieder kommt zwischendurch neue Kundschaft vorbei, vor allem Kinder und Jugendliche, denn es ist Freitagmittag, kurz nach Unterrichtsschluss.

„Wie im Horrorfilm“

Doch dass ein Festbetrieb überhaupt möglich ist, ist derzeit alles andere als selbstverständlich. Für Schaustellerunternehmen war das letzte halbe Jahr eine harte Zeit, denn infolge des Corona-Lockdowns Mitte März brachen plötzlich alle Umsätze weg. „Die letzte Einnahme, die wir erzielt haben, ist vor Weihnachten letztes Jahr gewesen“, so Krolzig. Die reihenweisen Absagen fest eingeplanter Volksfeste und Kirchweihen, darunter auch das Oktoberfest, welches erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht stattfinden kann, waren ein schwerer Schlag für die Branche. „Manchmal kommt man sich vor wie im Horrorfilm, wo man morgens denkt, man müsste wach werden und das müsste doch jetzt irgendwie vorbei sein, was leider nicht der Fall ist“, resümiert der Kirmes-Kenner.

Die „Wilde Maus“ sollte ursprünglich im März für zwei Wochenenden auf dem Schriesheimer Mathaisemarkt gastieren. Das erste davon lief noch ganz regulär, jedoch hatte man schon die Befürchtung, „dass da was kommen könnte.“ Zum zweiten Wochenende sollte es gar nicht mehr kommen, denn zu diesem Zeitpunkt musste bereits abgebaut werden. Eine Hiobsbotschaft für alle Betriebe: keine freudigen Fahrgäste mehr, kein buntes Treiben auf dem Festplatz – keine wirkliche Perspektive. „All diese Dinge waren abrupt gestoppt. Da war natürlich erstmal Schock, Rätselraten, großes Fragezeichen“, erzählt Richard Krolzig mit betroffener Stimme. „Wie geht das weiter? Was kommt?“, fragten sich auch viele verunsicherte Kolleginnen und Kollegen. Doch vorerst ging gar nichts mehr. Eine ganze Branche wurde vom einen auf den anderen Tag praktisch stillgelegt.

Verbände sprechen von einem Berufsverbot

Durch das erlassene Verbot von Großveranstaltungen gab es monatelang keine Möglichkeit, Festplätze mit Fahr- und Spielgeschäften sowie Süßwarenständen zu bespielen. Schaustellerverbände sprachen gar von einem Berufsverbot. Viele Unternehmerinnen und Unternehmer mussten infolgedessen an ihre finanziellen Reserven, die unter anderem für die Winterpausen oder die Altersvorsorge gedacht waren. Zudem sahen sich manche dazu gezwungen, Teile des Betriebsvermögens aufzulösen. Die meisten der rund 5.300 Betriebe sind Kleinst- und kleine Unternehmen, größtenteils seit Generationen in Familienhand geführt. So auch der Betreiber der „Wilden Maus“, die Max Eberhard & Sohn GmbH. Das Hamburger Familienunternehmen, gegründet 1899 und bereits in fünfter Generation, hatte die bekannte Achterbahn erst im vergangenen Jahr von ihrem langjährigen Vorbesitzer übernommen.

Mithilfe bundesweiter Kundgebungen wie Anfang September in Berlin möchte die Veranstaltungsbranche ein Notsignal an die Politik senden. Auch der Deutsche Schaustellerbund beteiligte sich an der Großdemonstration des Bündnisses #AlarmstufeRot.
© #AlarmstufeRot, Fotograf: Manuel Weidt

Richard Krolzig hat durchaus Verständnis dafür, dass die aktuelle Situation auch für die Entscheidungstragenden absolutes Neuland ist und eine schwierige Herausforderung darstellt. Gleichzeitig macht er aber keinen Hehl daraus, dass er sich mehr Unterstützung gewünscht hätte: „Wir haben uns dieses Jahr wirklich gefühlt wie die heiße Kartoffel, die man eben so fallen lässt“, bilanziert er und wirft großen Teilen der Politik Gesprächsverweigerung vor. Nur wenige Volksvertreterinnen und -vertreter hätten aktiv den Austausch gesucht, um über die Sorgen und Nöte der Branche zu reden. Schließlich nutzten gerade Parteien seit jeher fleißig die lokalen Volksfeste und insbesondere deren Bierzelte, um sich in Wahlkampfzeiten zu profilieren und auf Stimmenjagd zu gehen.

Das Volksfest als Sündenbock?

Empört haben ihn und seine Kolleginnen und Kollegen aber vor allem die mantraartigen Aussagen mancher Regierenden, die mit Begriffen wie „Starkbierfeste“ oder „Schützenfeste“ ein Bild zeichnen, das so nicht der Realität entspricht. Denn Jahrmärkte, Kirmessen und Volksfeste bestehen bei weitem nicht nur aus dem Konsum alkoholischer Getränke, auch wenn dieser natürlich ein Faktor sei, „der nicht wegzureden ist“, wie Krolzig betont. „Wir haben uns schon sehr einseitig abgestempelt gefühlt.“

Besonders fassungslos machte ihn zudem ein vorwurfsvoller Wortlaut eines süddeutschen Ministerpräsidenten, welcher im Juni behauptete, dass man wisse, dass Großveranstaltungen wie Volksfeste der Ursprung der Pandemie seien. Diese äußerst gewagte These weist der Fachmann jedoch entschieden zurück: „Mir war nicht bewusst, dass auf deutschen Volksfesten halbtote Fledermaus aus Wuhan der Verkaufsschlager gewesen sein soll. Das ist abstrus, das geht gar nicht.“

Doch abseits der kommunikativen Kontroversen gibt es auch erfreuliche Entwicklungen: So erhielten im Frühjahr viele Gewerbetreibende die ersten Corona-Soforthilfen dank eines unkomplizierten Online-Antrags bereits innerhalb einer Woche. Zudem haben Schaustellerverbände und die Kommunalpolitik mittlerweile Wege gefunden, um trotz der Untersagung von Großveranstaltungen wieder Festplätze bespielen zu lassen – wenn auch nur im kleinen Rahmen. Durch die Ausrichtung geplanter Volksfeste wie dem Herbstplärrer als eingeschränkter Vergnügungspark konnte das Verbot umgangen werden. In Zusammenarbeit mit der Stadt Augsburg wurden Auflagen festlegt und ein Hygienekonzept erstellt, sodass doch noch ein Vergnügen für Jung und Alt und damit auch ein Stück Normalität auf dem Kleinen Exerzierplatz ermöglicht werden konnte.

Der Plärrer-Vergnügungspark: keine Bierzelte, weniger Publikum und ein reduziertes Angebot an Attraktionen – dafür mehr Abstand, breitere Wege und eine familiärere Atmosphäre.
© Thomas Koristka

Auch wenn die Besucherinnen und Besucher heuer auf die bayerische Bierzelttradition verzichten müssen, finden sich immer noch einige weitere bekannte Stände und Fahrgeschäfte auf dem Plärrergelände wieder: vom klassischen Autoscooter und dem gemütlichen Kettenkarussell über die rasante Leopardenspur bis hin zur extremen XXL-Riesenschaukel. Zudem ist mit den zahlreichen Imbiss-, Süßwaren- und Ausschankbuden auch für das kulinarische Wohl gesorgt.

Übergangsphase oder „neue Normalität“?

Allen Einschränkungen zum Trotz: Hat man einmal die Einlasskontrolle passiert, fühlt es sich fast so an wie früher. Baby-Flug, Geisterbahn und Break Dance hier – Zuckerwatte, Steckerlfisch und Riesenbosna da. Kinder rennen euphorisch an die Fahrschäfte, während einem die Schreie mancher Fahrgäste der Riesenschaukel aus knapp 50 Metern Höhe entgegenschallen. Ein vertrautes Gefühl, das diesmal eben von Abstand, Bodenmarkierungen, Maske und Registrierungsformularen begleitet wird. Wer ein Freund des Rummels ist oder sich einfach mal vom Corona-Alltag ablenken möchte, der nimmt diese einfachen Vorschriften gerne in Kauf. Gerade Familien, die in diesem Jahr nicht verreisen konnten oder wollten, soll das Konzept des Plärrer-Vergnügungsparks ansprechen.

Doch ist das diese „neue Normalität“, von der aktuell so viele reden? Richard Krolzig möchte davon eigentlich nichts hören, denn er ist kein Fan dieses Begriffs: „Ich hätte gerne lieber die alte Normalität wieder, sodass das hier nur eine Übergangsphase ist.“ Man sei aber froh, dass man überhaupt was tun könne, so der Haupttenor im Umfeld. Unter diesen Umständen stelle es eine große Erleichterung dar, dass es Alternativkonzepte wie hier in Augsburg gibt, sowohl aus wirtschaftlicher Sicht als auch für die Schaustellerseele. Auch wenn die Umsätze nicht ganz so wie in normalen Zeiten ausfallen, befinde man sich „in einer Phase des kleinen Lichtblicks“, so der Projektmanager. Denn man habe bewiesen, dass Veranstaltungen dieser Art ebenfalls funktionieren können, und das sei ein wichtiges Zeichen.

Das Publikum als „größter Verbündeter“

Die Freude bei ihm und seinem Team war riesig, als es endlich wieder losging – trotz des verregneten ersten Wochenendes. „Es war so schön. Diese Mixtur, die Lichter, die Musik, die Geräusche, die Menschen – man hat sich einfach über alles gefreut“, verrät Richard Krolzig mit strahlenden Augen. „Das, was wir machen, ist ja nicht nur Beruf und Broterwerb. Es ist Berufung, es ist Leidenschaft, es ist Lebensaufgabe.“

Als äußerst angenehm empfindet er den „sehr familiären Charakter“ des Ersatz-Plärrers, denn durch die Begrenzung der maximalen Personenzahl auf knapp 1.500 und das nicht mehr vorhandene Übermaß an Alkohol seien die Abläufe „geschmeidiger“ geworden: Es gebe weniger Ärger mit Betrunkenen, zudem kämen ihm die Besucherinnen und Besucher obgleich der schwierigen gesamtgesellschaftlichen Situation entspannter als sonst vor. Darüber hinaus bekomme man relativ viel Trinkgeld – eigentlich eher unüblich. Doch viele Menschen schätzten das Angebot gerade jetzt umso mehr und haben Mitgefühl angesichts der nach wie vor bedrohlichen Lage, in der sich die Schaustellerbranche als Ganzes befindet. „Dies zeigt auch, dass unser größter Verbündeter das Publikum ist“, berichtet Krolzig glücklich.

Ein Augsburger Leuchtturmprojekt

Insgesamt lobt er das Konzept der Plärrer-Vergnügungsparks und dessen Organisation durch den Schwäbischen Schaustellerverband, der deutschlandweit einen sehr guten Ruf genießt. Woanders wäre eine Veranstaltung in dieser Form vielleicht gar nicht möglich geworden, munkeln manche. Zahlreiche Kolleginnen und Kollegen aus allen Teilen der Republik haben sich bereits erkundigt, wie das Pilotprojekt in Augsburg läuft und warum es so gut funktioniert. Auch die Kommunalpolitik wertet das kurzfristig auf die Beine gestellte Konzept als Erfolg: Die Schutz- und Hygienekonzepte hätten sich laut Oberbürgermeisterin Eva Weber bewährt. Infolgedessen verlängerte die Stadt den Ersatz-Plärrer bereits zum zweiten Mal, die anderen Aktionen des „Sommers in der Stadt“ dürfen ebenfalls bis Anfang Oktober weitergehen.

Volksfesttreiben auf dem Rathausplatz
© Thomas Koristka

Gerade als Richard Krolzig über den wiedererlangten Spaß an der Arbeit und den wiederaufgeladenen mentalen Akku spricht, treten die nächsten Fahrgäste vor das Kassenhäuschen der „Wilden Maus“. Wiederholungstäter, denn die beiden Jungs kommen unmittelbar von der vorherigen Runde und möchten die rasante Achterbahn gleich ein weiteres Mal genießen. „Richtig geil das Ding!“, ruft der hintere der beiden lautstark, während sein Kollege die neuen Tickets kauft. Unverzüglich rennen sie nach dem Erhalt der Fahrscheine auf den Eingang der Bahn zu, um in den nächsten Wagen zu steigen.

Genau das sind solche Momente, für die Krolzig und viele andere aus der Branche tagtäglich leidenschaftlich ihre Arbeit verrichten. „Die sind gefahren, kommen raus, kommen wieder, war geil, war super, war toll. Schön, die haben Spaß, und darum geht es. Und das überträgt sich auch auf uns“, erzählt der sympathische Projektmanager, der sich kaum einen anderen Job vorstellen könnte. „Es gibt viele Berufe, da erarbeitet man Konzepte, die landen im Papierkorb und man weiß am Ende gar nicht, ob es jemandem gefallen hat oder nicht.“ Im direkten Umgang mit den Menschen spüre er dies jedoch sofort. „Es ist eine Abstimmung mit den Füßen: Die Leute wollen, oder sie wollen nicht – und das Ergebnis ist immer eindeutig“, berichtet er stolz.

Mit Zuversicht wieder in die Spur kommen

Solches Feedback in Zeiten wie diesen lässt ihn etwas hoffnungsvoller in die Zukunft blicken. Der Anfang ist gemacht, auch wenn noch einige Unsicherheitsfaktoren zu bewältigen seien, insbesondere beim Thema Weihnachtsmärkte. Doch der Bad Hersfelder ist überzeugt, dass diese Herausforderung ebenfalls gelingen könne, wenn man sich an bewährten Konzepten wie dem Plärrer-Vergnügungspark orientiert: „Dann kann so ein leuchtendes Beispiel wie Augsburg vielleicht auch ein bisschen was bei anderen Städten bewirken.“

Natürlich dürfe, trotz aller Freude über den betrieblichen Neubeginn, auch der wirtschaftliche Rahmen nicht außer Acht gelassen werden, betont er. „Wir sind ja nicht nur wegen Luft und Liebe hier, es muss sich am Ende des Tages auch rechnen. Aber natürlich muss die Richtung klar sein: Es muss irgendwann auch wieder zu dem hingehen können, was man hatte.“ Krolzig rechnet zwar für nächstes Jahr ebenfalls nicht mit einer normalen Saison, dennoch zeigt er sich aufgrund der bisherigen positiven Erfahrungen mit den Alternativkonzepten optimistisch.

Eine Rückkehr zur Normalität scheint aufgrund wieder steigender Infektionszahlen und eines weiterhin fehlenden Impfstoffs derzeit tatsächlich noch in weiter Ferne. An Festplätze ohne Festzelte wird man sich somit vorläufig gewöhnen müssen. Auf das gewohnte bunte Treiben wird man noch eine Weile verzichten müssen. Aber die Eindrücke vor Ort haben deutlich gemacht, wie sehr den Beschäftigten eines ganz besonderen Berufszweigs ihre Arbeit, ihre Berufung und ihr Lebenswerk am Herzen liegt – speziell in schwierigen Zeiten.

Und wenn Corona auch etwas Positives bewirkt hat, dann vor allem den Zusammenhalt einer Branche, die gemeinsam an einem Strang zieht. Die Freude über jeden einzelnen Fahrgast, der mit einem Lächeln im Gesicht ein Ticket kaufen möchte. Und die Demut, dass dies alles nicht selbstverständlich ist, wie einem die vergangenen Monate deutlich vor Augen geführt haben.

Richard Krolzig merkt man die Freude an der Arbeit sichtlich an. Nach einer „Achterbahnfahrt der Gefühle“ infolge des Corona-Lockdowns sieht der Bad Hersfelder optimistisch in die Zukunft.
© Thomas Koristka