So weit weg

Die Bäume zogen an ihnen vorbei. Der grau verhangene Himmel passte zur Stimmung, die im Wagen herrschte. Der Vater hatte mehrmals versucht ein Gespräch anzufangen aber niemand war so wirklich darauf eingegangen. Es war bei losen Bemerkungen zum gedrängten Verkehr auf der Autobahn und dem trüben Wetter geblieben. Alle vier bereiteten sich mental auf das vor, was sie am Ziel erwarten würde. Einer war zu Hause geblieben. Es fragte sich niemand weshalb.

Jetzt san die Tog schon kiazer word’n
Und Blattln foilln a von die Bäum
Und auf’m Oilmasattl liagt scho Schnee
A koider Wind waht von die Berg
Die Sonn is a scho unterganga
Und I hätt di gern in meiner Näh

Als sie die Nachricht erreicht hatte, war jeder von ihnen geschockt gewesen. Trotz der Umstände. Natürlich war es zu erwarten gewesen. Irgendwann.  Aber so schnell? So verdammt schnell?

Auch wenn der Kontakt zwischen ihnen eingeschlafen war, waren die Anzeichen nicht zu übersehen. Dass ihm manchmal die Wörter für die einfachsten Dinge fehlten oder man manche Fragen dreimal stellen musste, bis man eine Antwort von ihm bekam, waren nur die kleinsten Auswüchse dessen gewesen, was sich langsam in sein Gehirn eingeschlichen und dort eingenistet hatte.

Dann der Unfall. Er hatte beim Überholen ein entgegenkommendes Auto übersehen. Der Zusammenstoß hatte wohl einen Schalter in seinem Kopf umgelegt, denn man konnte anschließend dabei zusehen wie seine Erinnerungen verblassten, wie ihm das Alltägliche schwerer fiel und die Krankheit immer mehr von seiner Persönlichkeit Besitz ergriff. Es ging bergab. Und alles was man tun konnte war zusehen und hoffen. Hoffen, dass ein bisschen länger Zeit blieb. Denn Besuchen war schwer. Die Einrichtung, die nach dem Unfall sein zu Hause geworden war, hatte seit der Pandemie strenge Auflagen wer, wann und wie lange besuchen durfte. Das Hoffen hatte nichts gebracht. Und nun saßen sie in dem Wagen und hingen ihren Gedanken nach, während der Nieselregen die Scheiben benetzte.

Jetzt bist so weit, weit weg
So weit, weit weg von mir
Jetzt bist so weit, weit weg
So weit, weit weg von mir
Das tuat mir schiach, und wia

Sie waren zu früh. Wie immer. Sie schwiegen und warteten, während die feuchte Kälte in ihre Schuhe kroch. Die anderen kamen kurz vor knapp. Auch wie immer. Es war früher bei den Familientreffen auch schon so gewesen. Als diese noch stattfanden. Irgendwann war es jeder Leid gewesen, dass jedes dieser Treffen in einem Streit endete und so wurden diese immer unregelmäßiger und der Kontakt war nur auf das beschränkt was alle verband: Die Krankheit und das was sie aus dem Menschen gemacht hatte, den sie liebten.

Man nickte sich gegenseitig zur Begrüßung zu. Ein Zettel am Kircheneingang verwies auf die einzuhaltenden 2 Meter Abstand. Keine große Schwierigkeit. Wie ein Mahnmal stand der Sarg vor der Familie. Umgeben von Rosengestecken. Die Lieblingsblumen. Die Trauerrede der Pastorin flimmerte in ihren Ohren und Tränen trübten die gesenkten Blicke. Bekannte Töne aus einem alten CD-Player, der aufgrund des Gesangverbots aufgestellt worden war, füllten die Kirche. Die Masken verbargen die Gesichter, aber die unter den dunklen Mänteln schluchzenden Angehörigen offenbarten den Verlust, den die Familie erlitten hatte.

Du woarst wia der Sommerwind
Der einifoahrt in meine Hoarn
Als wia a woarmer Regen auf der Haut
Ich riach’ nua deine nassen Hoar
I gspiar’ nau deine Händ im G’sicht
Und wie du mir ganz tief in d’ Augen schaust

Nach dem Geleit zu seiner letzten Ruhestätte, der allen von ihnen unwirklich erschien, verabschiedete sich die Pastorin von den Trauernden und ließ sie allein zurück. Eine Ewigkeit verstrich bis sich die ersten aus ihrer Starre lösten und vor das Loch im Boden traten, um Rosen und Erde hinab zu werfen. Einer nach dem anderen trat vor das Grab und taumelte dann mit Tränen verhülltem Blick in die Arme des nächstbesten Angehörigen. Leise unterhielten sie sich.

Jetzt bist so weit, weit weg
So weit, weit weg von mir
Jetzt bist so weit, weit weg
So weit, weit weg von mir
Das tuat mir schiach, kumm her zu mir

Nach einigen Minuten zog sich die Familie geschlossen von dem Friedhof zurück. Vor den Toren des Friedhofs standen sie unbeholfen zusammen, während der ein oder andere von einem Fuß auf den Anderen tänzelte, um sich die Kälte aus den Knochen zu treiben. Sie standen noch lange da. Und während sie sich zum Abschied gegenseitig in den Armen hielten, deren Finger sie nicht mehr spürten, sagte jemand: „Vielleicht können wir uns ja an Opas Geburtstag mal wieder treffen, wir haben uns alle schon so lang nicht mehr gesehen.“

Liedtext: Weit, weit weg von Original Alpinkatzen

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