Knallbunt

©Emilia Riedmann

„Lustig, nicht wahr?“, sagt Leopold. 

„Spinnst du jetzt eigentlich total?“, erwidere ich.

„Nein.“

„Ich weiß aber gar nicht, ob ich das kann.“

„Das ist ja der ganze Punkt. Du könntest dich einmal in deinem Leben auf etwas einlassen.“

Ich schlage meine Augen auf und starre ins Nichts. Als wäre ich langweilig oder so. Nur weil ich nicht ‚Hurra‘ schreie, bei jeder Idee, die er auf den Tisch legt. Und das sind viele. Ich habe selten jemanden erlebt, der so viele verrückte Ideen in seinem Kopf herumschwirren hat. Ich stütze mich auf meine Ellenbogen. Schaue Leopold an. Wir liegen unter der alten Eiche am Stadtrand. Die ausladenden Zweige lassen eine stattliche Vergangenheit erahnen. Heute sind an den Zweigen kaum mehr Blätter. Das Wort Schatten zu verwenden fühlt sich falsch an. Der Baum zeichnet einfach nur das löchrige Abbild seiner selbst auf unsere Haut.

„Du sagst all das ohne auch nur die Augen zu öffnen?“, sage ich zu Leopold.

„Bitte? Warum sollte ich?“

„Weil das, was du mir gerade vorgeschlagen hast, nicht nur irgendwas ist.“

„Na und? Außerdem hatte ich eben Lust, es auf diese Art und Weise zu tun. Fühlt sich dramatischer an.“

Ich hingegen habe meist auf gar nichts und niemanden Lust. Außer vielleicht auf Leopold. Der ist okay. Meistens zumindest. Wenn er nicht nervt. Heute nervt er. Mit all seinen ‚lustigen‘ Ideen.

„Schau Petulia, manchmal muss man den Sprung ins Ungewisse einfach wagen“, ruft er und springt auf. Er rennt zu dem kleinen Kanal, der nur zur Hälfte mit dreckigem Wasser gefüllt ist. Auf dem Weg dorthin reißt er seine Hose von sich und macht dabei komische Hüpfer. Dann setzt er zu einem Kopfsprung an, besinnt sich aber eines Besseren und macht nur einen weiteren schiefen Hopser, um schlussendlich mit viel Gespritze im Wasser zu landen.

„Du hast nie Lust auf irgendwas. Immer der gleiche Trott. Du musst mal rauskommen“, schreit er aus dem Kanal.

„Worauf soll ich denn Lust haben?“ 

 

Ich muss mich aufrichten, um noch seinen Kopf zu sehen, der leicht aus dem Wasser ragt. Ich möchte schließlich nicht mit einem Kanal reden.

 

„Das ist ja schon total die falsche Frage. Du willst ja nicht mal Lust haben.“

Leopold ist eingeschnappt. Er findet seine Idee wie immer fantastisch. Um es mit seinen Worten zu sagen, unübertrumpfbar. Ich lehne mich mit dem Rücken an den Baum und seufze. „Also“, hallt es dumpf aus dem Kanal. Langgezogenes A. Lange Pause. „Ich denke wir müssen zuerst ein Problem lösen.“
„Es gibt aber kein Problem.“ Jetzt werde auch ich lauter.

„Sehr wohl gibt es das.“ Mit diesen Worten klettert er hinaus. Tropfnass, wie ein Hund, läuft er auf mich zu und schüttelt die schulterlangen Haare direkt vor mir aus. Tropfen um Tropfen fällt auf mich. Ich sitze regungslos da und starre ihn an. Starre durch ihn hindurch. Warum muss er aus allem immer so ein Drama machen?

Ich mag mein Leben. Es ist geordnet. Es ist strukturiert. Damit komme ich klar. Ich esse, ich arbeite, ich gehe spazieren. Was sollte ich mehr wollen.

Ich stehe jeden Tag zur selben Zeit auf. Ich frühstücke immer dasselbe. Müsli mit Apfel und Milch. Ich setzte mich an den Schreibtisch, arbeite. Mittags gibt es belegte Brote. Dann arbeite ich wieder. Dann gehe ich spazieren. Immer dieselbe Runde. Dann gibt es Abendessen. Eine Woche im Voraus durchgeplant. Dann gehe ich pünktlich um zehn Uhr ins Bett.

Das funktioniert. Das will ich nicht ändern. Nur damit komme ich klar.

Leopold stemmt die Hände in die Hüften. Durchbohrt mich mit seinem Blick. Sagt für eine ganze Weile nichts. Bis ich meinen Blick hebe und ihn anschaue. Trotzig. Ich verschränke die Arme. Ich sage nichts. Starre ihn an. Seine kleine Nase, die hoch in den Himmel schaut. Die schulterlangen braunen Locken, die schon wieder beginnen sich zu kräuseln. Seine Ohren, die weit abstehen und den feinen, leuchtend roten Strich auf seiner linken Wange. Eine Narbe, die sich quer über seine linke Backe zieht.

 

Er schaut mich weiterhin an. Schüttelt den Kopf und seufzt, als wäre ich ein quengelndes Kind. „Du musst aufhören in schwarz-weiß zu denken. Zwischen Schwarz und Weiß gibt es nämlich noch ganz schön viele Grautöne…“

 

„Was ist das denn jetzt für ein Blödsinn“, falle ich ihm ins Wort. Leopold liebt es, in Metaphern zu reden. Langsam schwindet meine Geduld.

„…von den bunten Farben ganz zu schweigen“, vollendet er seinen Vergleich. Jetzt endlich setzt er sich hin. Direkt vor mir, ins vertrocknete Gras. Versucht sich in einen Schneidersitz zu setzten, scheitert, weil er zu ungelenkig ist. Seine Beine landen irgendwo vor ihm und die Arme stützen sich am mit Rissen übersäten Stück Erde ab, das wir ‚Hier‘ nennen. Er greift nach dem ausgebleichten, schlammbraunen Schlapphut, und zieht in sich über die Ohren. Sein zerschlissenes Handtuch liegt weiterhin unberührt neben meinem. 

„Wir starten ein Experiment. Für den Rest des Tages, okay?“

„Ich will das doch gar nicht.“

 Leopold lehnt sich nach vorne. Bis sein Gesicht wenige Zentimeter von meinem entfernt ist. Er ist zu nah. Aber ich bin gefangen in meinem Widerstand. „Doch, Petulia, du willst.“ Seine Augen funkeln: „Ab jetzt bist du lustig. Bist du lustvoll. Bist alles was du schon immer sein wolltest oder aber eben nichts davon. Sag mir worauf du Lust hast und wir machen es. Du wirst Spaß haben. Mehr Spaß als jemals zuvor.“

Ich schaue an mir herunter. Lange schwarze Haare fallen lustlos auf meine Schultern, reichen fast bis über den nachtschattenschwarzen Badeanzug. Schaue auf meine Füße und Hände. Weißer Nagellack. Blicke auf den Rest meines Körpers, Arme und Beine leicht gebräunt, trotzdem blass. Sehe Leopold an. In diesem Augenblick weiß ich, dass er Recht hat. Ich trage schwarz und weiß. Ich denke schwarz und weiß.

Leopold grinst. Sein breitestes Lächeln. Er sagt nichts aber seine Augen sagen alles. „Was machen wir als erstes?“, fragen sie mich herausfordernd.

„Als allererstes …“, will ich anfangen, aber kann den Satz nicht vollenden, weil ich nicht weiß, wie ich fortfahren soll. „Als allererstes…“, ich setzte erneut an, aber die Worte bleiben in meinem Hals stecken. Meine Hände beginnen hektisch in der Luft zwischen uns zu gestikulieren. ‚Durchatmen, Petulia‘ sage ich mir selbst.

Leopold nimmt meine Hände in seine. „Schließ deine Augen. Sprich mir nach. Als allerstes“, flüstert er.

 

„Als allererstes“, flüstere ich, „will ich einen knallbunten Badeanzug.“

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