Gartengeräusche

Frieda lässt sich den Berg hinter der Bahnbrücke hinunterrollen. Sie Lässt den Rädern ihren Lauf, nur um kurz danach scharf abzubremsen und ihr Fahrrad in einer engen Rechtskurve in den Hof des alten Hauses an den Gleisen zu lenken. In Schlangenlinien fährt sie um die tiefen Schlaglöcher, aus denen große und kleine Steine herausbrechen und sich im ganzen Hof verteilen. Die überdurchschnittlich große Würstchen-Statue aus Stein, die sonst alle Ankommenden begrüßt hatte, ist weg. An ihrer Stelle steht mittlerweile ein blühender Fliederbusch. Links daneben beginnt der Garten des komisch rosafarben gestrichenen Hauses an den Gleisen.

Frieda schwingt ihr Bein über das Fahrrad und bringt ihr Fahrrad vor den Unmassen an anderen Fahrrädern zum Stehen. Sie scheinen ihre eigenen Reihen zu bilden. Sie sind Hinterbliebene längst vergangener Mitbewohner und Sprösslinge frischer Neuankömmlinge. Tagein, Tagaus richten sie ihren Blick auf die Bahngleise hinter dem Zaun. Lehnen sich aneinander an und lauschen dem Leben der Bewohner hinter ihnen. Frieda dreht sich um, während sie ihren unordentlichen Dutt richtet, aus dem die langen Haare wieder anfangen herauszufallen. Vor ihr, auf dem kleinen Stück Dreck, sitzen die Bewohner des Hauses Nummer Sechs auf alten Plastiksitzgelegenheiten. Sie ruft ein gemütliches „Hey“ in die Runde und grinst. Niemand schaut sie komisch an, fragt sie was sie hier wolle. Man kennt sich. Sie läuft an Harry und Peter und Mimi und Fine vorbei, die wie immer tief im Kartenspiel stecken und all ihre Konzentration auf den nächsten Zug richten. Die Füße ruhen im Dreck, stecken in Schlappen und dicken Socken. Die Beine sind in Jogginghosen gewickelt und die Oberkörper in mehrere Schichten bunte Kleidung eingepackt, denn die Sonne hat es noch nicht ganz geschafft ihre wärmenden Strahlen auf die Bewohner:innen zu richten.

Frieda läuft mit Schwung durch die durchgehend geöffnete Haustür, die nur im Winter bei Minusgraden geschlossenen ist. Fünf Treppenstufen später steht sie vor der Wohnungstür zu der sie wollte. Sie dreht den Schlüssel, der im Schloss steckt. Immer im Schloss steckt, denn irgendjemand ist immer da. Das letzte Mal, als sie geklingelt hat, ist ewig her. Die Mitbewohnerin meinte nur irgendwann: „Mach dir die Türe doch ruhig selber auf“. Seitdem öffnet sie sich die Tür selbst. Sie späht den Flur hinunter, kann aber nicht das entdecken, was sie gesucht hat. „Bist du daheim?“, schreit sie, zieht dabei ihre Schuhe aus und lässt den Rucksack von der Schulter gleiten. Die Tür zum ersten Zimmer steht sperrangelweit offen, auf dem Fenster wiegen sich die Blätter der jungen Avocadobäume in einer leichten Briese. Führen einen Tanz auf, in dem Zug zwischen Haustür, Wohnungstür und Fenster. Frieda schmeißt ihren Rucksack ins Zimmer und macht sich auf die Suche nach ihm.

 

„Erwin?“, schreit sie durch den Flur. 

Ihre Füße stecken im Dreck. Graben sich mit den Zehen immer tiefer, bis jeder Zeh mit einer hellbraunen Schicht bedeckt ist. Ihre Mutter hätte ihr das verboten. Früher im Garten, da durfte sie nie barfuß gehen. „Bienen, Scherben, wer weiß was da alles rumliegt“, hat ihre Mutter gesagt. Aber hier ist es egal, wie viel Dreck sie an ihren Füßen hat. Oder ob sie mit dreckigen Füßen ins Haus läuft. Hier kann sie sein, wie sie will. Auf einmal rauscht ein angebissener Apfel gegen ihren Kopf. Sie reibt sich über die leicht schmerzende Stelle und dreht sich um. „Du Arsch!“, ruft sie und schmeißt den Apfel dahin zurück, wo er hergekommen ist. Die anderen sitzen um sie herum und lachen, als das Stück statt Erwin den alten Schuppen trifft. Erwin lacht laut auf. Frieda streckt dem Übeltäter die Zunge raus und legt sich zurück in das Gras. Hände hinter dem Kopf verschränkt, Blick auf den blauen Himmel über sich gerichtet. Um sie herum ist milder Trubel, immer mehr Bewohner kommen aus den Wohnungen in den Garten und setzen sich auf die Wiese neben sie oder fläzen auf abgewetzten Sitzmöbeln, die irgendwer schon vor zehn Jahren als zu schäbig für den eigenen Garten empfunden hatte. „Bloß nicht auf die frisch angesäte Wiese mit den Gartenmöbeln!“, wie immer mal wieder eine Stimme schreit, sollte jemand wagen das zu vergessen. Zum Glück waren die Möbelsenioren hier an einer guten letzten Ruhestätte angekommen. Obwohl Ruhestätte vielleicht das falsche Wort für diesen Ort ist, denn eigentlich ist es hier selten leise. Während sie die Wolken vorüberziehen sieht, überlegt Frieda wie viel ihrer Lebenszeit sie wohl an diesem Ort, dem Haus mit dem großen kleinen Garten verbracht hat. Tage? Wochen? Und das, obwohl sie doch eigentlich immer nur zu Besuch ist.

Ein schrilles Fiepen reißt Frieda aus ihren Gedanken. Baron steht an der großen Musikbox und versucht zum hundertsten Mal seine neue Spotify Playlist abzuspielen. Hinter ihm spitzt Blitzi um die Ecke des Hauses, die braunen Haare in zwei kleine Dutts gewickelt, und kommt mit schwingenden Schritten auf die Kartenspieler in der Mitte des Gartens zu. Frieda setzt sich auf und lässt ihren Blick durch den Garten wandern. Ganz auf der anderen Seite, noch hinter Baron, schraubt Bert an einem der alten Fahrräder herum, dreckige Hände und einen Kopf voller wilder Dreadlocks, die hinter den umgedrehten Rädern verschwinden. Auf der Wiese, die sich noch gar nicht lange als Wiese bezeichnen darf, liegen die anderen Gesellen, inklusive Erwin und spielen ein Spiel nach dem anderen.

„Kurt, geh runter von dem Polster!“, schimpft Inge den großen Braunhaarigen, der sich gerade mit Wucht zu ihr auf das rot-braune Sitzposter geschmissen hat. Kurt kann nicht umhin, die Vorlage für eine Show anzunehmen. So springt er wieder auf, landet auf beiden Beinen, stützt die Hände auf die Knie und schaut angriffslustig in die Runde. Er Klopft sich mit den Fäusten an die Brust und macht Affengeräusche dazu. Die Diskokugel, an dem alten korsetttragenden Apfelbaum über ihm wirft kleine Lichtfunken auf Kurt, der sich nun seinen Weg zum Spieletisch bahnt. Halb laufend, halb hopsend. Kurz vor dem Tisch entscheidet er sich anders und klettert behände auf das Dach des kleinen Gartenhäuschens, überwuchert von Efeu und beinahe am Zusammenfallen, aber nur beinahe. Irgendjemand hatte sich eine halbe Mühe gemacht und versucht das Dach zu flicken, scheiterte an der eigenen Lustlosigkeit und so öffnete sich kurz danach an einer anderen Stelle ein weiteres Loch. Kurt findet seinen Weg um die Löcher herum und schwingt sich an die Vorderkante des Häuschens. Dreht seinen Kopf nach links und nach rechts, bevor er seinen Blick mittig auf das zweite Fenster in der untersten Reihe vor ihm fokussiert. Giesis Kopf schiebt sich langsam durch das Küchenfenster und ihre kurzen weißblonden Haare reflektieren das Licht der Sonne fast so sehr wie die Diskokugel im Apfelbaum. Auch sie schaut nach links und nach rechts, entdeckt schließlich Kurt auf der Hütte und bleibt mitten in ihrer Bewegung stehen. Einen kurzen Blickwechsel später kommt ein Knurren aus Kurts Hals und er schreit: „Futter!!!“

Rund um Frieda versetzt sich alles in Bewegung. Darauf haben die knurrenden Mägen seit einer Stunde gewartet. Die Spieler in den Kreisen schrecken hinter ihren Spielkarten hervor und packen sie eilig zurück in die Schachtel. Die Menschen rund um die Lagerfeuerstelle stehen langsam und gemächlich aus ihren Sitzmöbeln auf, packen das Plastiketwas, auf dem sie saßen, in eine Hand und die noch halbvolle Bierflasche in die andere. An dem Kartenspieltisch, mitten auf dem Stück Dreck, werden die Schafkopfgewinne in die jeweilige Hosentasche gesteckt und die Karten gleich mit dazu. Stühle werden verrückt und Tische herbeigetragen. Kurze Zeit später steht die Tafel. Giesi, Mauri und Lenni tragen die großen Kochtöpfe voll duftendem Essen aus der unteren rechten WG nach draußen. Wieder andere holen das Geschirr aus der linken WG und so ist nach wenigen Minuten auch die Tafel gedeckt, die Plätze eingenommen und die Kellen stecken in den designierten Töpfen. Das Festmahl kann beginnen.

Frieda genießt das Spektakel vor sich. Sie Lässt alle Leute aufspringen und die große Tafel aufbauen. Der Tisch, an dem alle einen Platz haben sollen. Bewohner:innen, wie nicht Bewohner:innen. Alle sind willkommen. Irgendwer wird schon zur Seite rücken und Platz machen. Schon wieder schleicht sich ein Lächeln auf Friedas Wangen. Irgendwo im Haus wird noch ein letzter Fensterladen aufgestoßen, bevor die Person dahinter die Treppe in den Garten hinunterrast. Selbst die Fensterläden sind individuell, gleichen den Menschen, die hinter ihnen wohnen.

An der Stelle, an der eben noch die letzten Sonnenstrahlen auf Friedas Gesicht geschienen haben, breitet sich auf einmal Schatten aus. Frieda schaut auf die nackten Füße vor sich, die haarigen Beine und schließlich auf eine ausgestreckte Hand. „Futter“, sagt Erwin, mit einem Blitzen in den Augen, und zieht Frieda hoch.

Bert und Baron machen auf der blauen Plastiksitzbank Platz und Frieda kann sich gerade so noch mit hin quetschen. Von der anderen Tischseite wird ihr ein Teller rübergeschoben und irgendjemand steckt ihr eine Gabel in die Hand. Semmelknödel landen auf dem Teller und dazu viel Blaukraut und ein bisschen Rahmsoße. Die Kochfreudigen haben sogar für zwei verschiedene Salate gesorgt. „Jemand noch eine Gabel über?“, fragt Erwin in die Runde. „Nö sind keine mehr da, aber du kannst meine haben,“ sagt Leo, der zu Erwins anderer Seite sitzt, und fügt ein genuscheltes „Ich bin eh schon fertig“ dazu. Während Frieda sich eine Gabel voll mit all dem guten Essen in den Mund steckt, schaut sie kurz in die Runde. Alle futtern und reden abwechselnd, die Stimmung am Tisch ist ausgelassen. Schließlich ist das einer der ersten Frühlingstage, an denen alle draußen gemeinsam essen können. Obwohl sich selbst im Winter manchmal fünfzehn Leute in einer Küche wiederfinden, in der normalerweise Fünf ihr Essen zubereiten und einnehmen. Für alle gibt es einen Platz. Erwin lehnt sich im Stuhl zurück und legt den Arm auf die Plastikbank hinter Frieda. Er reibt sich zufrieden über seinen Bauch und fragt in die Runde: „Wer will ein Bier?“. Fünf Arme gehen hoch. Mit einem Seitenblick auf Frieda sagt er: „Sieben Bier, kommen sofort.“

Über den Köpfen der Bewohner:innen und Nicht-Bewohner:innen flackern die Birnen der langen bunten Lichterkette auf. Giesi hat die Lichterkette eingesteckt und fängt langsam an, den Tisch abzuräumen. Alle scheinen aus ihrer Trance zu erwachen und jeder packt mit an. Teller stapeln und das Besteck in den nun leeren Töpfen sammeln. Spülmaschinen anschmeißen und was nicht reinpasst wird von Hand gespült. Frieda hilft, Töpfe zu spülen. Auf Friedas anderer Seite klappern Leo und Giesi mit den Kühlschranktüren, führen einen Tanz in der Küche auf, voreinander und nebeneinander. Aneinander vorbei und doch miteinander. Als Kurt in der Küchentüre steht steigt er auch mit ein und die drei Mitbewohner lachen, singen und tanzen. Frieda wird mitgerissen und wackelt mit dem Spülschwamm in der Hand mit. Sie stellt die letzte Schüssel aufs Abtropfgestell, gerade als Erwin von draußen den Kopf durchs Fenster steckt: „Feuer ist an, Leute“. „Ab nach draußen“, brüllt Kurt und die braunen Locken hüpfen genauso um den Kopf herum wie seine Beine, die ihn nach draußen tragen.

 

Die Menschen sind ein bisschen weniger geworden und alle die noch am Feuer sitzen, haben mindestens zwei Pullis und eine Jacke an und selbst wenn jemand keine hat bekommt man irgendwo her eine gereicht. Das Feuer brennt munter unter dem alten Apfelbaum und wärmt die Gesichter, die fröhlich ins Feuer starren. Fast wie damals vor drei Jahren, als der ganze Keller von altem Krempel befreit wurde und daraus einer der erinnerungswürdigsten Abende in Friedas Kopf entstand. Fernseherverpackungen und alte Zeitungen wurden gleichermaßen auf ihren eigenen Scheiterhaufen geworfen. Nur die vergilbten Pornohefte, die irgendwer aus der letzten Ecke des Kellers herausgezogen hatte, wurden einmal im Kreis gereicht. Der Keller wusste damals noch nicht, was ihm bevorstand. Dass er für kleine und große und riesengroße Partys sorgen wird. Dass er für unvergessliche Erinnerungen sorgen wird. Dass neben zahllosen unglaublichen und aberwitzigen Geschichten auch ganz andere Dinge entstehen werden. Zarte und grobe Teile, Freundschaften und Beziehungen.

 

Bert hat mittlerweile fertig gedreht, was auf seinem Schoss lag und gibt weiter, sodass jeder etwas abhaben kann. Im Kreis wandert es weiter und weiter, bis Giesi den letzten Zug nimmt. Sie schaut mit beiden Augen fest ins Feuer, als wäre sie damit innerlich verbunden. Schweigt und lässt auch Frieda schweigen, die sich genauso wenig vom Anblick des Feuers losreißen kann. Selbst Baron gegenüber, der so gerne große Reden schwingt, starrt geistesabwesend ins Feuer. Das Knistern des Feuers ist für kurze Zeit das einzige Geräusch zwischen dem Dutzend Menschen. An keinem Ort können so viele Menschen zur gleichen Zeit schweigen wie hier. Obwohl man sich nicht kennt oder nicht gut kennt oder sich sehr gut kennt. Frieda hat gelernt wie es ist, einfach inmitten von anderen Menschen zu sein und nichts zu sagen. Gemeinsam nichts zu sagen bis irgendwo her wieder ein Satz in die Runde geschmissen wird. 

Frieda schmeißt ihren Rucksack in den Fahrradkorb ihres Klapprads.  Ein paar letzte Bewohner:innen und Nicht-Bewohnerinnen sitzen über dem immer kleiner werdenden Feuer. Langsam schiebt sie ihr Fahrrad rückwärts aus der Fahrradkolonie. Währenddessen fängt das Vorderlicht an schwach zu flimmern. „Danke Bert“, denkt sie sich im Stillen. Er hatte innerhalb von 5 Minuten die Lösung gefunden, über die sie mehrere Tage gebrütet hatte. „Einfach den Stromkreis schließen“, waren die einzigen Worte, die er dazu verloren hatte. Während sie ein Bein auf die andere Seite des Fahrrads schwingt, wirft sie einen letzten Blick nach oben. Manche Zimmer sind hell erleuchtet. Andere schon lange dunkel. Fensterläden werden zugezogen und auf den Balkonen werden die letzten Lichterketten ausgesteckt. Frieda atmet tief ein. Atmet ein letztes Mal für diesen Tag, der eigentlich schon der nächste ist, die Luft im Garten des komisch rosafarben gestrichenen Hauses direkt neben den Gleisen und rollt aus dem Hof.

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