Der lange Weg in die fremde Heimat

Junge Russlanddeutsche in Augsburg auf der Suche nach Identität und Perspektiven

Von Muhammed Erez

Junge Russlanddeutsche in Augsburg auf der Suche nach Identität und Perspektiven

“Ich habe mir Deutschland wie ein Märchen vorgestellt. Ich dachte mir, wenn da alle Deutschen wohnen, dann muss ich auch dort wohnen.“ Lilijas Erwartungen an das gelobte Land waren groß. Aber sie wurde auch vorgewarnt: Vor allem auf Disziplin komme es an. „Meine Tante meinte, ich solle in Deutschland sofort so hart arbeiten, wie ich es in Russland gelernt hatte.“ Die 42-Jährige setzte sich an ihrem Arbeitsplatz in einer Computerfabrik durch und wird heute von ihren Kollegen geschätzt.

Zwischen Roter Armee und Bundestagswahl

Doch nur selten gelingt Spätaussiedlern die Eingliederung ins Berufsleben so reibungslos. Der Augsburger Integrationsbeauftragte Robert Vogl bedauert, dass gerade ältere Spätaussiedler wenig mit den in der Heimat erlernten Qualifikationen anfangen könnten: „Sie können ihre Berufe hier nicht verifizieren.” Ursache ist die Distanz zu Sprache und Kultur: „Helmut Kohl hat die Spätaussiedler in erster Linie als Wählergruppe hergeholt. Unter hundert Spätaussiedlern sind vielleicht 20 deutschstämmig. Ein entfernter deutscher Verwandter in der Abstammungslinie reicht ja aus.“ Jüngere kämen häufig erst gar nicht nach Deutschland, da sie mit den sozialen, politischen und kulturellen Strukturen nichts zu tun haben wollten.
Lilija wollte nach Deutschland und nahm dafür Einiges auf sich: Fünf Jahre dauerte es, bis sie alle erforderlichen Unterlagen zusammen hatte. „Danach traten wir eine sechstägige Reise an. Von Karabalkan in Kirgisien bis Moskau fuhren wir mit dem Zug, dann mit dem Bus nach Raststatt in Baden-Württemberg. Dort blieben wir, Vater, Mutter, Bruder und die Kinder, zehn Tage lang.“ Nach einigen weiteren Stationen gelangte sie schließlich nach Augsburg. Auch nach sieben Jahren in Deutschland plagen sie noch Sprachprobleme: „Bis zum sechsten Lebensjahr sprach ich mit meinen Eltern noch deutsch – bis mein Vater in die Rote Armee eingezogen wurde. Dann war es verboten.“

„Der Vater trinkt, die Mutter geht zum Putzen“

Übergangsklassen sollen Aussiedlerkindern eine bessere Eingliederung ermöglichen. Unterrichtsschwerpunkt ist das Erlernen der deutsche Sprache. Betreut werden die Schüler unter anderem von Gabriel Weiß*, Lehrer an einer Grundschule. Auf seinem Pult liegt ein russisch-deutsches Wörterbuch. Sibylle Schneider, Soziologin und Psychologin aus Augsburg, beklagt die „enormen Disparitäten“ im deutschen Bildungssystem: „Die soziale Ungleichheit wird bei uns über das Bildungssystem reproduziert.“ Der Mangel an ökonomischen und sozialen Ressourcen führt dazu, dass Migrantenkinder sich allzu häufig auf der Hauptschule wiederfinden: „Dabei sprechen die Aussiedlerkinder besser deutsch, als man vermuten könnte.“
Lehrer Weiß arbeitete lange Zeit auch als Schöffenrichter beim Jugendgericht: „Vor Gericht habe ich mancher meine ehemaligen Schüler nach Jahren wieder gesehen. Die Anklagen waren beispielsweise wegen Raub oder Autodiebstahl und Beschaffungskriminalität. Sie sagten mir, dass es ihnen leid täte. Aber es war nichts mehr zu machen.“ Weiß sucht die Schuld nicht bei den Jugendlichen: „Die Kinder wurden aus ihrer Umgebung fortgerissen. Ihre Erinnerung an Russland ist die einer Idylle: Das Land und die Tiere, mit denen sie gespielt haben. In ihren Augen hat sich die eigene Situation in Deutschland verschlechtert: Der Vater trinkt, die Mutter geht zum Putzen, obschon sie qualifizierte Berufe in der Sowjetunion erlernt hatten.“ Daher komme es auf flankierende Maßnahmen an: „Die Fördermittel für integrative Einrichtungen dürfen nicht gestrichen werden. Projekte für die Eingliederung der Jugendlichen müssen weiter aufrechterhalten werden.“ Projekte, die auch dafür sorgen, dass Jugendliche nicht früh zu Kriminellen werden. Die offizielle Seite windet sich zur Frage, ob Aussiedler tatsächlich mehr Gewaltdelikte verübten: „Die Polizeikräfte behaupten dies zumindest. Die Enthemmung ist bei männlichen Spätaussiedlern ein signifikantes Merkmal, das in Zusammenhang mit Alkohol steht und im Ergebnis kriminelle Handlungen auslösen und fördern kann“, so Integrationsbeauftragter Vogl.

Schicksalsgemeinschaft in der Gartenzwergidylle

Sergej, 28 Jahre alt, hält solche Aussagen für Blödsinn. Vor zehn Jahren kam er aus Orenburg im Südural nach Deutschland: „Die ersten Tage waren komisch – wie im Zoo. Die Jugendlichen, die Kaufhäuser: Alles war so bunt. Danach habe ich kapiert, dass Weihnachten war.“ Schicksalsgemeinschaft – so bezeichnet der 28-jährige seine Gruppe der Spätaussiedler. „Die Integration funktioniert eher schlecht. Es sind viel zu viele da. Es hängt auch von den Leuten ab: Es gibt einige, die einfach nicht wollen. Sie sehen sich eher als Russen und sind auch stolz darauf.“
Dass ihm Deutsche deshalb aber immer wieder Vorurteile entgegenbringen, macht Sergej zu schaffen. Feindseligkeit schlug ihm während seines Wehrdienstes entgegen: „Ein Soldat aus Ostdeutschland mochte Russen nicht. Er nutzte jede Gelegenheit aus, um mich zu ärgern. Einmal sagte er: ‘Ich kann mich mit einer leeren Flasche besser unterhalten als mit dir! Du verstehst gar nichts.’“

Trotz solcher Schwierigkeiten beobachtet Vogl eine positive Entwicklung. Die Spätaussiedler hätten verstanden, dass der Betreuungsstaat passé sei, und sie sich zunehmend selbst organisieren müssten: „Der Staat kann hier nur noch Möglichkeiten anbieten.“ Doch er sieht für die Zukunft auch die Notwendigkeit eines Mentalitätswandels: „Wir schaffen keine Identifikation mit dem Deutschein, wenn wir Deutschsein wie heute definieren. Die Gartenzwergidylle wird es nicht mehr geben. Deutschsein wird sich eher auf den kulturellen Raum beziehen.“

Harte Jungs in der Abenddämmerung

Abenddämmerung auf dem Europaplatz im Augsburger Univiertel. Jugendliche sitzen in Gruppen auf den Bänken. „Man kommt einfach hier her – immer sind irgendwelche da, die man kennt.“ Natalie ist 18 und seit ihrem sechsten Lebensjahr in Deutschland. Ihr Deutsch ist fließend, obwohl sie sich überwiegend auf russisch unterhält. Sie fühle sich deutsch, habe aber kein Problem damit, Russin zu sein. Eine Freundin mischt sich ein: “Sie will vielmehr eine Deutsche sein, fühlt sich aber als Russin.”
Die Jugendlichen sind sich einig: Probleme mit der Eingliederung in die fremde Gesellschaft hätten vorwiegend diejenigen, die mit zwölf Jahren oder später nach Deutschland kämen. Diese Gruppe unterscheide sich auch äußerlich. Auf der Straße grüße man sich – mehr nicht. Einer jungen Russin, die als Austauschstudentin ein Semester in Augsburg verbringt, missfallen ihre Eindrücke: “Einige der Russlanddeutsche im Univiertel lassen sich gehen. Sie fühlen sich nicht als Russen, aber hier spüren sie die Abneigung vieler Deutschen. Das nimmt vielen die Lust, sich einzugliedern. Bei mir in der Schulklasse gab es auch Russlanddeutsche. Von allen wurden sie normal behandelt.” Darüber kann der 21-jährige Alexander nur lächeln: „In Russland hat man uns als Nazis beschimpft. Das Leben war dort härter. Um Brot zu kaufen, musste man regelmäßig lange anstehen.” Seinen ersten Tag in Deutschland vergisst er nie: „Ich war neun. Ich habe riesengroße Augen gemacht: Die Hochhäuser, die Beleuchtung in den Straßen.“

Von Vorurteilen und Jogginghosen

Mit drei Freunden sitzt Roman am Rande des Platzes. Der 21-Jährige trägt eine weite Trainingshose, an der Stirn hat er eine Schürfwunde. Vor elf Jahren kam er aus Kasachstan: „Mein Opa und meine Oma mussten im Arbeitslager arbeiten, dann wurden sie nach Kasachstan vertrieben.“ Wohl fühlt er sich nicht in Deutschland: „Ich habe keine Vorurteile gegenüber Deutschen. Die Deutschen haben Vorurteile. Dabei trinken wir gar nicht soviel wie die Deutschen. Die vertragen keinen Alkohol und trinken trotzdem. Danach können sie nicht mal mehr laufen und schreien rum.“ In Discos kommt er nicht rein: „Einmal gab es eine Schlägerei. Weil ein Mädchen ausgesagt hat, ich wäre dabei gewesen, wurde ich verurteilt. Das Gegenteil konnte ich nicht beweisen.” Von einem Polizist bekam Roman zu hören: “Ich solle ruhig sein, oder ich könne dahin gehen, wo ich hergekommen bin.” Sein Urteil über die neue Heimat fällt düster aus: “Ich glaube nicht, dass wir hier willkommen sind. Auf der Arbeit habe ich deutsche Freunde – die haben nichts gegen mich.“ Nur dort spricht er deutsch.
Warum er eine Jogginghose trägt? Er lacht: „Ich ziehe das an, was mir gefällt. Das ist einfach bequem.“ Werden sich Einwanderer und Deutsche irgendwann ganz akzeptieren? Roman denkt kurz nach: „Die beste Lösung wäre es, Russen und Deutsche zu vermischen – nur so geht’s.“

 

 

Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland

– seit den 1950er Jahren kommen Angehörige deutscher Minderheiten aus Osteuropa nach Deutschland; die Zahl steigt nach dem Untergang des Kommunismus rasant an

– rechtliche Grundlage für die Aufnahme ist bis 1993 das sogenannte „Kriegsfolgenschicksal“, das die Russlanddeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg in ihren Siedlungsgebieten erlitten haben; danach gilt das „Kriegsfolgenbereinigungsgesetz“ – jeder Antragsteller muss seither sein „Kriegsfolgenschicksal“ beweisen; die Regelung gilt nicht für Einwanderer aus Nachfolgestaaten der UdSSR

– Russlanddeutsche stellen zurzeit mit über 90 Prozent die dominante Zuwanderungsgruppe unter den Aussiedlern, zunehmend kommen gemischt-nationale Familien mit geringen oder gar keinen Deutschkenntnissen

– Zahl aller Einwanderer seit den 1950er Jahren: knapp 5 Millionen, davon kamen 3,7 Millionen ab Ende der 1980er Jahre aus der ehemaligen Sowjetunion

– Herkunft der Aussiedler (1994): insgesamt 213.214, davon 32% aus Russland, 57% aus Kasachstan, 5% aus Kirgisistan und 1,5% aus der Ukraine

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