Die Macht der Norm

Warum ist es wichtig, viele Freunde auf Facebook zu haben? Warum wird man als Single gefragt, warum man nicht vergeben ist? Warum hingen in meinem liebsten Klamottenladen letzten Sommer lauter Pastellfarben? Und warum muss ich mich für ein sozialwissenschaftliches Studium rechtfertigen, für ein naturwissenschaftliches aber nicht? Die schlichte Antwort: Normen.
Text: Katharina Knopf - Illustration: Marina Schröppel
Text: Katharina Knopf – Illustration: Marina Schröppel

Normen sind ungeschriebene Verhaltensvorschriften, die vermitteln, was akzeptabel ist und was nicht. Viele werden selten wahrgenommen und ebenso selten hinterfragt. Man könnte sie auch als unsichtbare Macht bezeichnen. Umso einflussreicher, weil wir uns ihrer gar nicht bewusst sind.

Die heteronormative Paarbeziehung

Es gibt immer mehr Singles. Immer mehr Menschen lassen sich scheiden. Die Zustimmung zur Erlaubnis der homosexuellen Ehe steigt. Die Partnerwahl scheint immer freier zu werden. Es darf mehr ausprobiert werden, mehrere Beziehungen im Leben zu führen ist keine Schande und selbst der Bundeskanzlerkandidat in der vierten Ehe wird ins Amt gewählt. Die Individualisierung schreitet voran.Vorbei ist die Zeit der Ehe zwischen Mann und Frau mit ihren beiden Kindern. Scheinbar zumindest. Die Angst, nur umringt von 100 Katzen zu sterben, ist uns geblieben. Man muss nur einmal einen Blick ins Fernsehen werfen. Kaum ein Seriencharakter hat je das ewige Glück ohne eine Liebesbeziehung gefunden. Kein Wunder bekomme ich als Single mehr als einmal die Frage gestellt: Warum hast du keinen Freund? Wohl gemerkt fragt nie jemand nach einer Freundin. Individualisierung hin oder her, die Norm zur (heterosexuellen) Partnerschaft bleibt bestehen. Und so sehe ich mich als Single plötzlich unter Rechtfertigungszwang.

Der Social Media-Fluch

Doch nicht nur unsere sexuellen Beziehungen stehen unter starkem Einfluss einer unsichtbaren Norm. Über die Freundesanzahl auf Social Media-Seiten wirdöfter gesprochen. Sie steht stellvertretend für eine Norm, die uns tagtäglich dem Druck aussetzt, uns mit möglichst vielen Leuten möglichst gut zu stellen. Wer extrovertiert ist, gewinnt. Arbeitgeber schauen sich das Facebook-Profil durchaus einmal an. Und wer will schon jemanden für sich arbeiten lassen, der nicht gut mit seinen Mitmenschen klar kommt? Wie intensiv die einzelnen „Freundschaften“ sind, kann man schlecht überprüfen, aber was macht das schon. Der Eindruck zählt. Und fühlen wir uns nicht viel besser, wenn wir wissen, wie viele Leute sich in unserer Freundesliste stapeln? Was wird über den mit „nur“ 50 Freunden gesagt?

Kleider machen Leute

Die Pastellfarben sind ein ganz anderes Problem. Wenn ich sie nicht mag, kaufe ich mir eben keine neuen Klamotten. Es laufen ja eh schon mehr als genug Leute mit den gleichen T-Shirts, Cardigans oder Schuhen herum und mit dem Studenten-Budget kann man eh nichtjede Mode mitmachen. Eine Weile geht das auch ganz gut, aber gerade bei Mode stelle ich fest: Sichzu widersetzen ist, zumindest manchmal, ist zwecklos. Auf einmal will ich haben, was ich eigentlich nie wollte. Es kann wohl niemand abstreiten, dass es so etwas wie eine Kleiderordnung gibt. Sei es nun etwas legerer, wie an der Uni, oder der Zwang zum Kostüm beim Bürojob. Vertauschen sollte man die jeweiligen Kleiderordnungen lieber auch nicht, denn da wird man in jedem Fall zum Gesprächsstoff; dabei ist nirgends niedergeschrieben, man solle nicht im Kostüm oder Anzug in die Seminare kommen. Normen beeinflussen also nicht nur meine Wünsche nach Beziehungen, sondern auch wie ich mich kleide.
Ausgabe 26: Macht
Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 26 unseres gedruckten Magazins.

Die Sanktion des Großraumbüros

Wer sich nicht an die Norm hält, hat mit Sanktionenzu rechnen, so sagen die Soziologen. Gemeint ist damit keine offizielle Strafe, sondern beispielsweise soziale Ausgrenzung.

Das „falsche“ Studium oder den „falschen“ Beruf zu wählen, wird mit geringerer Bezahlung, weniger sozialer Anerkennung und ausbleibenden Fördermitteln sanktioniert. Das kommt auch nicht überraschend: Schon bevor man sich für ein Studium entscheidet, ist man sich in der Regel im Klaren, was das für die berufliche Zukunft ungefähr bedeutet und nimmt dies in Kauf. Man beugt sich der kapitalistischen Norm, die besagt, welche Berufe scheinbar wertvoller für die Gesellschaft sind, wer eineigenes Büro mit Ausblick verdient hat und wer im Großraumsein berufliches Dasein fristen darf.

Wie kann man sich also der Macht der Normen widersetzen? Nun, man kann sich von Facebook abmelden,Sachen aus der Altkleidersammlung tragen und einfach machen, worauf man Lust hat und auf die Konsequenzen pfeifen. Natürlich ist das erst einmal leichter gesagt als getan und sollte nicht unbedingt zum Exzess betrieben werden, schließlich haben Normen auch ihr Gutes. Doch vielleicht sollten wir uns angewöhnen, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und zu hinterfragen, was scheinbar so selbstverständlich ist. Danach können wir immer noch entscheiden, ob wir uns daran halten wollen oder nicht.

Schreibe einen Kommentar