Eine kleine Evolutionstheorie politischer Macht
Verglichen mit früher ist die Politik friedlicher geworden. Unter den deutschen Entscheidern herrscht Konsens statt Konflikt, doch vielleicht trügt hier der Schein. Hat die Macht wirklich ihr Wesen verändern, oder sehen wir nur ein geschicktes Face-Lift für den modernen Wähler?
Lange herrschten in der Arena des Politbetriebes klare Machtverhältnisse. Selbst ernannte Macher und Gestalter kämpften gnadenlos um die Gunst des Wählers. Was sie alle gemeinsame hatten, war ein unbedingter Wille zur Macht, den nur die wenigsten Politiker glaubwürdig verhehlen konnten, denn aus jeder ihrer Poren strömte die Lust am eigenen Einfluss. Doch mit einem Mal drehte sich der politische Wind, schlug die Stunde des “Leisetreters”, eines Politikertyps, dessen Führungsstil ohne große Gesten und öffentliche Inszenierung der Macht auskommt.
Dieser Klimawechsel wird mit Blick auf die letzten beiden Bundeskanzler besonders deutlich. Unvorstellbar, dass die aktuelle Amtsinhaberin Angela Merkel wie noch ihr Vorgänger Gerhard Schröder am Gitter des Kanzleramtes rüttelt, oder ihren Einfluss durch ein öffentliches Basta ausübt. Öffentlich sind derlei Machtgesten einem nüchternen, konsensorientierten Auftreten gewichen, der stets die Sache selbst betont. Angesichts dieses auffälligen Wandels im Stil stellt sich Frage, ob sich auch das Wesen der politischen Macht selbst verändert hat. Erleben wir den Aufstieg einer ganz neuen Politik?
Parteien stehen im Zentrum politischer Macht
Parteien spielen für den Aufstieg in der deutschen Politik eine wesentliche Rolle, allein schon da sie über ihre Fraktionen Mehrheiten in den Parlamenten organisieren. Doch auch das politische Tagesgeschäft, die Auswahl von Kandidaten für wichtige Ämter und die Entwicklung politischer Programme findet in ihren Strukturen statt. Selbst ein Bundeskanzler kommt ohne die Unterstützung seiner Partei nicht weit.
So verspielte Schröder mit den Sozial- und Arbeitsmarktreformen der Agenda 2010 das Vertrauen weiter Teile der SPD-Basis. Selbst das Beharren auf seiner visionären Führungskraft konnte seine Abwahl 2005 nicht verhindern. Doch auch Angela Merkel ging den Weg durch die Hierarchien ihrer Partei. Zunächst von Kohl unterstützt, ist es ihr jedoch gelungen sich durch ihre Beliebtheit bei der Bevölkerung inzwischen trotz gelegentlicher Kritik in der CDU eine mehr als solide Machtbasis zu sichern.
Andererseits wird politische Macht jedoch ebenso durch die Partei ausgeübt, in der sich Erfolg als zunehmender Einfluss auf Personalfragen äußert. Damit kann ein ranghoher Politiker direkt den Aufstieg anderer beeinflussen. Begünstigungen sichern ihm die Loyalität anderer, doch viel aufsehenerregender ist der Einsatz dieser Art parteilicher Macht, um Konkurrenten auszuschalten.
Unter früheren Politikern kam es immer wieder zu öffentlichen Machtkämpfen innerhalb ihrer Parteien. Große Bekanntheit erlangte eine solche Auseinandersetzung um wirtschaftspolitische Fragen zwischen Gerhard Schröders mit Oskar Lafontaine. Kein halbes Jahr im Amt hatte der Kanzler noch genug Rückhalt in der SPD, um sich gegen seinen Finanzminister durchzusetzen, der im Jahr März 1999 sein Amt niederlegte. Dieser Machtbeweis steigerte Schröders Autorität in der Folgezeit erheblich.
Ausgabe 26: MachtDieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 26 unseres gedruckten Magazins.
Hinter verschlossenen Türen machen jene nach außen so sachbetonten neuen Politiker jedoch ebenso Gebrauch von internen Machtkämpfen, um die eigene Position zu stützen. Seitdem Angela Merkel politische Erfolge feierte, haben viele ihrer Konkurrenten der Politik den Rücken gekehrt. Dazu kam es kaum zufällig, auch wenn Merkel ihr Agieren erfolgreich von der Öffentlichkeit abschirmte. Umso mehr fiel die Entlassung des beliebten Umweltministers Norbert Röttgens im Mai 2012 auf, der sich schon vor der Energiewende für den Atomausstieg stark gemacht hatte. Hier griff die Kanzlerin zu einer großen Machtgeste, um zu verdeutlichen, dass sie keinen Konkurrenten um die Wählergunst in der CDU dulden würde.
Neues Gesicht für alte Prinzipien
Durch die starke Stellung der Parteien hat sich also weder der Weg an die Macht noch die Methode ihrer Ausübung wesentlich verändert. Der gleichwohl sichtbare Stilwechsel könnte mit einer weiteren klassischen Eigenschaft unserer Demokratie zusammenhängen. Allein das Vertrauen der Bürger rechtfertigt die Machtstellung eines Politikers. Er muss es sich bei jeder Wahl erneut verdienen und die Bevölkerung von seinen Leistungen überzeugen. Deshalb inszenieren Politiker ihre Machtausübung für die Öffentlichkeit.
Um den Geschmack der Bevölkerung zu treffen, orientieren sie sich natürlich an allgemeinen Überzeugungen und dem Zeitgeist. Moderne Politik muss in einer zunehmend komplexen Welt angemessen erscheinen. Die Zeit einfacher Patentlösungen ist dabei ebenso vorbei, wie der Glaube an einzelne Führungspersönlichkeiten, welche die Verhältnisse allein überblicken. Erfolg in Europa und der Welt erfordert viel eher ein flexibles und mitunter pragmatisches Vorgehen. Wichtig ist es, in der Sache Erfolge vorzuweisen, wobei ein zu ausgeprägtes Alphatiergehabe häufig hinderlich wäre. Streit oder das Gerangel um Posten führt nur dann zu einer Lösung, wenn es einem der Kontrahenten gelingt, alle anderen hinter sich zu lassen. Außerdem muss der machthungrigste Politiker noch lange nicht der fähigste sein. All das ist dem Wähler zu riskant, weshalb er lieber auf die zur Schau gestellte Professionalität des Sachpolitikers baut.
So irritierend es klingen mag, hat sich die Politik also gerade deshalb geändert, weil auch dieses Grundprinzip im Kern dasselbe geblieben ist. Vielleicht ist das aber auch gar nicht so schlimm, denn das bedeutet zumindest, dass Macht mit der Zeit geht.