Faszination Hautstich – Die Tätowierung als globales Phänomen

Teil 2: Von Protest, Stilfragen und Jugendsünden

Julia Krauss & Michael Müller – Illustration: Isabell Beck
Text: Julia Krauss & Michael Müller – Illustration: Isabell Beck

Nachdem wir uns bereits mit den dunkleren Kapiteln in der Geschichte der Tätowierung auseinandergesetzt haben, geht es im zweiten Teil unseres Überblicks um die Freiheit. Hier erfahrt ihr, wie sich der Hautstich von der Protestkultur zu dem vielfältigen Massenphänomen aufgeschwungen hat, das wir aus unserem Alltag kennen.


Die 1960er Jahre schlugen nach dem dritten Reich ein wie eine Bombe! Ausgehend von den USA kam eine Jugendprotestbewegung auf, die neben LSD, sphärischer Musik und Woodstock auch das Tattoo wieder in Mode brachte. So entstand bei Hippies und Punks gleichermaßen eine Protestkultur, die von einer bewussten und kritischen Haltung gegen die „spießige“ bürgerliche Welt der Eltern und Großeltern geprägt war. Die Tätowierung wurde so zum Massenphänomen und zum Ausdruck eines Verbundenheitsgefühls.
Die radikalen Punks im Großbritannien der 70er Jahre machten den Hautstich zum Teil ihrer Rebellion. Mit szenetypischen Motiven zeigten sie Flagge gegen die schlechte wirtschaftliche und politische Lage des Landes: grinsende Totenschädel mit gekreuzten Knochen, Ratten, Spinnen und Spinnennetzte, Pin-Ups mit Irokesen-Frisur oder Namen und Logos von bekannten Bands dienten als konstante Ausdrucksform des nicht gesellschaftsfähigen Individuums. Dieses schlechte Image von Rauheit und Verwegenheit wurde später maßgeblich durch den Ruf von Rockern und Bikern verbreitet, als sich in den späten Siebzigern Hardrock- und Heavy-Metal-Strömungen der Tätowierkunst anschlossen. Andererseits wurde der Hautstich über die ausgestrahlten Musikvideos auch endgültig in der westlichen Welt gesellschaftsfähig gemacht.

Die Stichart verändert sich

Die ersten Hautstiche der Steinzeit waren eher ungewollt. Um die Blutgerinnung zu beschleunigen oder durch die Reizung der Haut für mehr Narbengewebe zu sorgen, wurde Pflanzensaft in eine Wunde gerieben. Das konnte eine Verfärbung der Narbe nach sich ziehen, was schlussendlich doch gewollt genutzt wurde. So entstanden als erste Tätowierungen Linien und später durch die individuelle Abschottung der Kulturen verschiedene Tätowiertechniken und Motive.
Zum großen Wandel und endgültigen Triumphzug der Tätowierungstechnik kam es erst 1891. Samuel O ́Reilley wandelte den von Thomas Edison erfundenen Elektrostift (ebenso Erfinder der Glühbirne und des Grammophons) in eine elektronische Tätowiermaschiene um. Der größte Vorteil gegenüber den alten Stichtechniken war, dass man nun viel schneller, hygienischer und vor allem präziser tätowieren konnte. Heute gibt es für Tattoomotive eine Vielfalt verschiedener. Unter „Old Port/School“ fallen zum Beispiel Seemotive mit eigenständiger Bedeutung.
So steht die Schildkröte als Symbol für die Überquerung des Äquators. Der „Neue Tribalismus“ steht für kraftvolle schwarze Linien und nicht-figurative Designs, unter anderem basierend auf der visuellen Sprache der Polynesiern. Der illustrative Stil des Westens ist dagegen auf technische und stilistische Perfektion ausgerichtet. Zudem gibt es die Stilart „New School“ der etliche Unterstile unterfallen, wie Lettering, Grafitti, Celtic, Kanji/Oriental, Fantasy/Feen und Engel, Biomechanik, Cartoons & Pinups, Porträts und Religion/Mythologie.

Der Hautstich wird zum Massenphänomen

Heutzutage ist das Tragen eines Tattoos Mainstream geworden. Viele lassen sich aus einem persönlichen Gefallen am Motiv tätowieren, ohne seine ursprüngliche Bedeutung genau zu kennen. So kann es die Identität des Trägers unterstreichen, kann aber genauso ohne tiefere Bedeutung bleiben und lediglich für das ästhetische Empfinden des Trägers stehen. Es ist chic, Tattoos zu tragen, die in den vergangenen Jahren zur Modeerscheinung, fast schon zum Must-have geworden sind. Das solche Schönheit vergänglich ist, zeigen sogenannte „Tattoo-Jugendsünden“.
Vielen älteren Trägern werden Steißbeintattoos, oder der einst stolze Adler, der zu einem hässlichen faltigen Vogel geschrumpft ist, unangenehm peinlich. Folglich verwundert die hohe Nachfrage nach Tattoo-Weglaserungen oder Cover-Ups kaum. Deshalb sollte sich jeder „Glatte“ vor dem ersten Nadelstich seines Wunschmotives sicher sein und es besser mehrfach hinterfragen. Reichen vielleicht schon Trikot und Fanschal oder geht die Liebe zum FCA wirklich unter die Haut? Zuletzt sollte aber jeder nach seinem eigenen Schönheitsempfinden urteilen, denn seien wir einmal ehrlich: Manche Tattoos sind große Meisterwerke, formvollendet und wirklich schön anzuschauen! Kompliment also an die Träger und vor allem an die Künstler, die dahinter stehen!

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