Von Körnerfressern und kaltblütigen Omnivoren – Wenn Ernährung zum Label wird
Neben der Frage nach der politischen Einstellung und der Haltung zur globalen Erwärmung, wird nun auch die Gabel, die zum Mund geführt wird, ganz genau unter die Lupe genommen. Der neue „Trend“ des vegan-vegetarischen Lebensstils, dessen Fokus auf Nachhaltigkeit und Essgewohnheit liegt, ruft bei so manchen Gruppen hitzige Diskussionen hervor und läutet das Duell ein: Keule gegen Möhre.
Umweltbewusst zu leben ist wichtig für uns, unsere Kinder und den Erhalt unserer Erde. In der Praxis ist das allerdings leichter gesagt als getan und erfordert etliches an Selbstdisziplin und Verantwortung. Nicht selten treffen Menschen, die den Schritt „Pro-Planet“ wagen und damit oftmals ihren Alltag komplett umkrempeln müssen, in ihrer Umgebung auf Verständnislosigkeit. Die Folge ist im Extremfall gesellschaftliche Ausgrenzung. Wer weiterhin seinen Hummer fährt und es wagt, die Wanne mehr als Vogel-Bad-Größe volllaufen zu lassen, kritisiert die Hippies, die in Eco-Pferdekutschen zu ihrem Yoga-Retreat fahren. Aus Protest lassen diese sich jetzt Bein- und Achselhaare wachsen, um klar ein Zeichen zu setzen. Natürlich sind diese Stereotype stark überzeichnet: Nicht jeder der ein Herz für Tier und Umwelt hat, bekennt sich für jetzt und immer zu einem sektengleichen Essenskult und nicht jeder der sich nach jahrelanger harter Büroarbeit einen First-Class Flug gönnt, ist ein Zerstörer der Erde in Person.
Der Soja-Boom und seine Folgen
Insbesondere in Online-Communities wie Facebook oder YouTube zeichnen sich aber bereits Anfänge aufkommender Milieus ab: Veganer vs. Fleischesser – es herrscht Krieg zwischen den Futterfronten. Erstere teilen die Meinung, Fleischesser, die sich nicht an die anscheinend heiligen Gebote des Veganismus halten, tragen Schuld am Aussterben unseres Planeten. Vegan sein ist laut den Usern, kein Trend, sondern eine andauernde Lebenseinstellung. Die Vorteile und positiven Auswirkungen auf Körper und Geist scheinen unermesslich. Und in der Tat, ganz Unrecht haben sie damit nicht. Veganer nehmen weniger freie Radikale zu sich und verzichten komplett auf tierische Produkte, was speziell Allergikern und Lebensmittelintoleranten zu Gute kommen kann. Zusätzlich senken sie durch ihre fleischlose Ernährung den Blutdruck, mindern Herz-Kreislauf-Schwächen und das Risiko später an Diabetes zu erkranken. Abgesehen von diesen bewiesenen Vorzügen müssen Veganer jedoch ihre Vitamine im Auge behalten, die häufig aufgrund der einseitigen Kost vernachlässigt werden.
Ausgabe 29: Europa
Dieser Artikel erschien zuerst in Ausgabe 29 unseres Magazins als E-Paper.
Tatsächlich verursacht die industrielle Produktion von Fleisch andauernde Schäden für die Umwelt, ist ethisch inakzeptabel und verschwendet Ressourcen. Allein um ein Kilo Rindfleisch zu erzeugen, werden weltweit fast 16.000 Liter Wasser benötigt. Allerdings ist auch beim reinen Pflanzenanbau und nachhaltiger Ernährung höchste Vorsicht geboten. Millionen Hektar Regenwald werden in Brasilien aufgrund der steigenden Soja-Nachfrage gerodet. Die Kleinbauern in Südamerika leiden unter dem extremen Preisdruck, der durch die aufblühende Massenproduktion von Soja entstanden ist. Die Initiative Faszination Regenwald spricht gar von „Soja – der Fleisch gewordene Wahnsinn“. Mehr als die Hälfte davon geht allerdings wieder auf die Massentierhaltung zurück. Rund 12,6 Millionen Rinder, 27,5 Millionen Schweine, 1,6 Millionen Schafe und 39,6 Millionen Legehennen werden hauptsächlich mit diesem hoch eiweißhaltigen Produkt gemästet. Auch wenn der Anteil, der für Soja-Produkte verwendet wird, geringer ausfällt, zieht der Soja-Boom dramatische Folgen nach sich und spielt dem Ökosystem negativ in die Hände. Hinzu kommt das Problem, dass Etiketten wie „Öko“, „Bio“ oder „fair-trade“ keine Garantie mit sich bringen. Oft versprechen die Siegel nur die Mindestbedingungen und enttäuschen bei genauerer Betrachtung. Nicht selten wird im angepriesenen Tofu, Gentechnik vorgefunden und die vegetarische Lyoner explodiert vor künstlichen Zusatzstoffen. Zudem kommen bei der Gemüseproduktion noch etliche synthetische Dünger zum Einsatz, wie auch Pestizide, Herbizide und Insektizide, die nicht nur Arbeiter, sondern eben auch Konsumenten gesundheitlich beeinträchtigen. Es ist also allerhöchste Aufmerksamkeit beim Warenkauf geboten.
Für einen gesunden Mittelweg
Aber wann ist es genug mit der „Du kannst ein (immer) besserer Mensch werden“-Mentalität? Wo ist die feine Linie zum angrenzenden Fanatismus und Wahnsinn? Gegen bewusst leben spricht im Großen und Ganzen nichts. Letztendlich bleibt es jedem selbst überlassen, wie er sein Leben gestalten möchte. Ein Fleischesser soll sich bedacht ein halbes Hendl gönnen können, solange es nicht aus Massentierhaltung stammt und den Fütterungsvorschriften entspricht und ein Veganer soll sich mit seiner doch sehr einschränkenden Entscheidung nicht ins soziale Nirgendwo katapultiert fühlen. Allen Recht machen, wird man es ohnehin nie können. Wichtig ist, sich darüber klar zu werden, dass unsere Ressourcen endlich sind. Ein Kompromiss muss her, der gesunde Mittelweg muss angestrebt werden. Bewusst leben fängt im Kleinen an. Von Plastiktüten auf Brown-Bags umsteigen oder vielleicht hin und wieder auf das tägliche Schaumbad verzichten. Wer täglich seine Entscheidungen reflektiert und sich selbst ab und zu hinterfragt, ist schon auf gutem Wege nicht ein besseres, sondern ein besonneneres, vorausschauenderes Individuum zu werden. Damit sind die Grundpfeiler gegenseitiger Toleranz und Selbstlosigkeit gelegt – egal ob auf Mensch oder Tier bezogen.