Zukunft ohne Sexismus – Der Aktivismus von Catcallsofaugsburg

Es ist der 20.12.2020, vier Tage vor Weihnachten. Die Augsburger Innenstadt scheint vor Leere zu gähnen und die wenigen Passanten und Passantinnen, die unterwegs sind, stecken die frierenden Hände in die Manteltaschen. Die meisten Menschen haben es nicht eilig an diesem Nachmittag – die letzten Weihnachtseinkäufe wurden schließlich aus den Innenstädten in die Wohnzimmer verlagert. Sie bleiben immer wieder stehen und lesen Schriftzüge, die mit Kreide auf den Asphalt geschrieben sind. Diese passen nicht ins ruhige Stadtbild. “Überall. 70% junger Frauen erleben Anfeindungen im Netz” steht in gelb auf dem Moritzplatz geschrieben. Auf der anderen Seite des Platzes wird darauf aufmerksam gemacht, dass in einer Studie 39% der homosexuellen, bisexuellen und trans* Befragten angaben, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz erlebt zu haben. “#Stopptqueerphobie” steht in rosa darunter.

Die Augsburger Innenstadt gähnt vor Leere. ©Anne Eberhard

Auf dem Rathausplatz sind Aktivist*innen noch damit beschäftigt große Schriftzüge auf das Kopfsteinpflaster zu kreiden. “#Stopptsexuellebelästigung” haben sie einige Male an den Rand des Platzes geschrieben. Dass die Aussagen und Aufrufe nicht ins ruhige Stadtbild passen, ist so gewollt. Die jungen Menschen engagieren sich in verschiedenen Gruppen und nehmen an einer Aktion Teil, die von “catcallsofaugsburg” ins Leben gerufen wurde. Sie machen geschlechtliche Diskriminierung und sexuelle Belästigung sichtbar, indem sie diese auf öffentlichen Straßen und Plätzen “ankreiden” – also mit Kreide auf den Boden schreiben. “Catcalls”, das sind unerwünschte (sexuelle) Äußerungen durch Fremde im öffentlichen Raum. Viele Menschen, besonders Frauen und Personen, die als Frauen gelesen werden, haben bereits solche Erfahrungen gemacht. Die drei jungen Augsburgerinnen Aylin, Theresa und Jana rufen auf ihrem Instagramkanal dazu auf, Erfahrungen der verbalen sexuellen Belästigung mit ihnen zu teilen. Sie kreiden die Tat dann öffentlich an dem Ort an, an dem sie verübt wurde – so wollen sie die Belästigungen sichtbar machen.

Aktivist*innen kreiden auf dem Rathausplatz sexuelle Belästigung an. ©Anne Eberhard

Aylin, Theresa und Jana kämpfen für eine Zukunft ohne Sexismus. „Wir kreiden solange an, wie sexuelle Belästigung existiert“ schreiben sie auf ihrem Instagramkanal. Bis dahin scheint es noch ein langer Weg zu sein – denn bisher gibt es in Deutschland keine Möglichkeit, verbale sexuelle Belästigung zur Anzeige zu bringen. Sexuelle Belästigung gilt erst als Straftatbestand, sobald körperliche Berührungen im Spiel sind. Als Beleidigung werden Catcalls oftmals auch nicht gewertet, da dafür die Intention der Äußerung ausschlaggebend ist. Oft wird argumentiert, dass eine Äußerung nicht als Beleidigung, sondern als Kompliment gemeint wäre. “Das ist kein Kompliment, sondern Respektlosigkeit” entgegnet Aylin im Gespräch mit der Augsburger Allgemeine. Betroffene fühlten sich oft schuldig und entmachtet, wenn sie mit solchen Aussagen konfrontiert werden. Eine sexuelle Belästigung dann als “Anmache” zu werten, ist teil des Problems.

Antonia Quell aus Fulda kämpft ebenso wie die drei Augsburgerinnen für eine Zukunft ohne Sexismus. “Das Wort Catcalling finde ich eigentlich euphemistisch, es klingt niedlich, stellt Frauen als Katzen dar. Wir haben für verbale sexuelle Belästigung nicht einmal ein passendes, eigenes Wort – viele kennen den Begriff gar nicht: Das zeigt, wie sehr Deutschland bei dem Thema hinterher hinkt” merkt die Aktivistin im Gespräch mit der Augsburger Allgemeine an. Damit sich das ändert, müsse auch das Gesetz sichtbar machen, dass Catcalling eine Belästigung ist. “Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein” nannte Antonia Quell ihre Petition des Vorjahres, mit der sie das Ziel verfolgt, verbale sexuelle Belästigung als Straftatbestand festzuschreiben. Wird die Petition aufgegriffen und politisch weiter behandelt, könnten verbale sexuelle Belästigungen nachverfolgt und Täter*innen mit einer Geldstrafe bestraft werden. “Noch viel wichtiger als die Geldstrafen ist das Bewusstsein, das geschaffen wird. Das deutsche Recht sollte ein Wegweiser für Richtig und Falsch sein. Ein Gesetz gegen Catcalling demonstriert, dass verbale sexuelle Belästigung definitiv falsch ist” schreibt die Initiatorin. In anderen Ländern, wie Frankreich oder den Niederlanden, ist Catcalling übrigens bereits strafbar.

Aber wie würde eine Zukunft ohne Sexismus denn überhaupt aussehen? Auch wenn eine solche Zukunft das Ziel der Augsburger Catcall-Gruppe ist, fällt es den Aktivistinnen schwer, diese Frage zu beantworten. Das liegt daran, dass Sexismus ein so komplexes Konstrukt ist, das in unterschiedlichsten Formen und Größen auftreten kann und mit anderen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten zusammenhängt.

Aktivistin Theresa ©callsofaugsburg

“Sexismus ist als Einzelphänomen zu eindimensional betrachtet. Er tritt oft intersektional auf, weshalb eine Zukunft ohne Sexismus nicht das einzige Ziel sein kann.” 

– Catcallsofaugsburg

Theresa erklärt, dass Sexismus, Rassismus und Kapitalismus, sowie die allgemeine Ausgrenzungen von Minderheiten sich gegenseitig bedingen und in Abhängigkeit zueinander stehen. Man nennt das auch Intersektionalität.

Was die Augsburger Catcall-Aktivistinnen aber trotz der Komplexität des Themas klar vor Augen haben, ist das Ziel einer Zukunft, die geprägt ist von einem Bewusstsein gegenüber Missständen und strukturellen Problemen. Denn dass wir von Gleichberechtigung und einer angemessenen Anerkennung des Sexismus noch weit entfernt sind, hat ein Vorfall Anfang Dezember 2020 gezeigt. Catcallsofaugsburg gingen ihrem Aktivismus nach und kreideten eine rassistische, sexuelle Belästigung am Rathausplatz an. Genau dort, wo sich die Belästigung zugetragen hatte. Wenig später erschien die Polizei, da sich Passant*innen über den Schriftzug beschwert hatten. Die Polizist*innen forderten zuerst die KlimaCamper*innen auf, den Schriftzug zu entfernen und riefen dann, als diese dem nicht nachkamen, die Feuerwehr. Es folgte ein riesiger Polizeieinsatz im Herzen Augsburgs. Ein großes Löschfahrzeug und drei Polizeiautos rückten an und entfernten die Kreide schließlich. Der Polizeieinsatz sorgte für einen Aufschrei der Entrüstung in den sozialen Medien und für eine Welle der Solidarität mit den Augsburger Aktivistinnen. Viele empfanden es als einen Eklat, dass das Aufmerksam-Machen auf eine Belästigung stärker verfolgt wird, als die Belästigung selbst.

Angekreideter Catcall vor dem Rathaus, der Anfang Dezember von Polizei und Feuerwehr entfernt wurde. ©Anne Eberhard

Wie geht es Theresa, Jana und Aylin mittlerweile, einen Monat nach dem Vorfall? Wie bewerten sie die unterschiedlichen Reaktionen auf den Polizeieinsatz? Wir haben nachgefragt.

Von den offiziellen Reaktionen und Statements von Frau Weber und der Polizei waren sie größtenteils sehr frustriert. Die Verantwortlichkeit wurde von Seiten der Polizei von sich geschoben und es wurde als ein “Missverständnis” abgetan. Dabei wäre der Schriftzug nicht misszuverstehen gewesen – eine Triggerwarnung und der Hashtag “rassismusbekämpfen” seien deutlich zu erkennen gewesen. In dem Statement der Oberbürgermeisterin blieb es bei einem Appell, gegenseitig Respekt zu zeigen. Das empfinden die Aktivistinnen als zu vage.

“Eine Anerkennung dieser akuten Probleme, denen Menschen tagtäglich ausgesetzt sind, fand in unseren Augen nicht ansatzweise statt. Es besteht dringender Handlungsbedarf und dies konnten wir dem Statement von Eva Weber in keinster Weise entnehmen.”

– Catcallsofaugsburg zu dem Statement der Oberbürgermeisterin Weber

Aktivistin Aylin ©catcallsofaugsburg

Auch die Berichterstattung in den Medien wird von der Gruppe kritisiert, da der Catcall als ein Einzelfall dargestellt und die klare Benennung der Mehrfachdiskriminierung vernachlässigt wurde, schreiben die Aktivistinnen gegenüber presstige. Sie schlossen sich mit Augsburger Gruppen zusammen und setzten den Reaktionen ein Statement entgegen. Black Community Foundation Augsburg, CSD Augsburg, Frauen*streik Augsburg, OpenAfroAux, KlimaCamp und pia profamilia unterzeichneten gemeinsam. Trotz des Supports, berichtet Theresa uns, hat die Zeit nach dem Vorfall sie sehr beansprucht. Sie hat ihr aber auch gezeigt, wie wichtig ihr Aktivismus ist. Um die “Zukunft ohne Sexismus” zu erreichen, fordert sie die Sensibilisierung der Institutionen, konkrete Vorkehrungsmaßnahmen, sowie eine Reform des Bildungssystems, um von Beginn an Aufklärung zu fördern. Im Alltag sollten “SafeSpaces” geschaffen werden, also Räume, die frei von Diskriminierung sind. Räume, in denen sich jeder verstanden, sicher und willkommen fühlt. Eine Aufgabe, an der sich jede und jeder in Augsburg beteiligen kann.

Wenn die Corona- und Wetterlage es wieder zulässt, will sie und ihre Kolleginnen noch verstärkter gegen Sexismus vorgehen, auf ihn aufmerksam machen und den Betroffenen eine Stimme geben.

Das Erfolgsrezept auf einem Weg zu einer Zukunft ohne Rassismus?

Aktivistin Jana ©catcallsofaugsburg

“Durch ‘Wegwaschen’ und Wegschauen lassen sich diese Probleme nicht lösen. Es muss weiter darauf aufmerksam gemacht werden, bis diese Missverständnisse als solche anerkannt werden und akut dagegen vorgegangen wird. WE WON`T BE SILENCED.”

Catcallsofaugsburg

Zurück zum Sonntagnachmittag, kurz vor Weihnachten. Die Aktivist*innen der beteiligten Gruppen kreiden eben diesen Schriftzug, der von der Feuerwehr entfernt wurde, erneut an. Mit ihrer Aktion sind sie mittlerweile seit gut drei Stunden beschäftigt und sicher sind sie froh um ihre Handschuhe an diesem Wintertag. Eine Beteiligte verteilt Brezen an die Mitwirkenden. Zwei Polizeiautos rollen in Schritttempo über den Rathausplatz, eines davon kommt neben dem Brunnen zum Stehen, das andere, größere Polizeiauto parkt direkt vor dem Klimacamp. Eine Beamtin und ein Beamter steigen aus und gehen auf den angekreideten Catcall zu: Auf genau den Kreideschriftzug, den ihre Kollegen und Kolleginnen wenige Wochen zuvor haben entfernen lassen. Die Aktivist*innen haben ihn gerade vor den Stufen des Rathauses fertiggestellt. Die Polizistin und der Polizist bleiben stehen und lesen das Geschriebene. Dann gehen sie weiter Richtung Moritzplatz.

Eine Polizistin und ein Polizist betrachten den (erneut) vor dem Rathaus angekreideten Catcall, bevor sie zum Moritzplatz weiterlaufen. ©Anne Eberhard
Zwei Polizeiwagen halten während der Aktion auf dem Rathausplatz. ©Anne Eberhard

Vielen Dank an Theresa, Jana und Aylin für die Beantwortung unserer Fragen!