Themenwoche Zukunft: Literarische Beiträge

Am dritten Tag der Themenwoche präsentieren wir euch zwei literarische Beiträge in einem! Eine Kurzgeschichte übernimmt den Blickwinkel der Hoffnungslosigkeit auf die Zukunft, ein Gedicht bietet das optimistische Gegenstück und beleuchtet mögliche Lichtblicke.

Tabak x Gras: Eine Kurzgeschichte von Valentin Erhardt über Zukunftsängste, Selbstzerstörung und Dysthymie.

Kleine Wunder: Ein Gedicht von Franziska Riesinger über Mensch, Maschine und Momente des Glücks.

Tabak x Gras

Viktor saß still da und blickte zwischen die Wolkenschwaden, die den dunklen Himmel bedeckten. Sein leiser Atem und seine Starre wurden nur unterbrochen durch die Bewegung seines Arms und den darauffolgenden Zug an der Zigarette. Hinter sich wusste er die beleuchtete Straße, die ihn nicht interessierte, vor sich das gräserne, im Dunkel versinkende Nichts. Über sich sah er die Unendlichkeit und blies den Rauch in sie hinauf.

Schritte auf Kies ließen ihn aufhorchen. Die Geräusche von tiefen Atemzügen durch den Mund, die nach Selbstbeherrschung klangen.

Viktor drehte seinen Kopf herum und erblickte eine Gestalt über den Gehweg trotten, noch einige dutzend Meter von ihm entfernt, den rasierten Kopf in den Nacken gelegt und Dampf aushauchend. Unter jeder Straßenlaterne konnte Viktor ihre dicke Jacke und die in die Taschen gesteckten Hände erkennen, bis die Sichtbarkeit der Gestalt wieder abnahm und sie unsichtbar wurde, bevor sie den nächsten Lichtkegel betrat.

Unter einer Laterne hinter ihm angekommen, blieb die Gestalt stehen, sah zu Viktor herüber und hob grüßend das Kinn. Viktor antwortete auf dieselbe Art, was die glatzköpfige Person als Einladung zu nehmen schien, näherzukommen.

„Hey, haste ‘ne Kippe für mich über?“

Viktor zog eine leere Schachtel aus seinem Kapuzenpulli hervor, dann eine volle. Er warf die leere Packung beiseite.

„Danke, bist ein Retter.“

„Feuer?“, fragte Viktor. Der Mann setzte sich neben ihn ins Gras, die Zigarette zwischen den Lippen und beugte sich hinüber. Im gelben Schein der kleinen Flamme sah Viktor den Drei-Tage-Bart, die Augenringe und die nervös zuckenden Lider.

„Alles klar, Mann?“, fragte er. „Du siehst fertig aus.“

Der Fremde nahm einen tiefen Zug und stieß eine Rauchwolke aus, während er den Kopf schüttelte.

„Geht so. Es ging mir auf jeden Fall schon besser.“

Nach mehreren weiteren Zügen fügte er hinzu: „Und selbst? Warum sitzt du hier mitten in der Nacht im Feld?“

„Konnte nicht schlafen“, antwortete Viktor und blickte wieder hoch zum Mond. „Und wenn ich schon keinen Schlaf kriege, will ich wenigstens meine Ruhe, und die habe ich nur hier.“

„Sorry, dass ich sie gestört habe“, sagte der Fremde heiser lachend. Viktor lächelte mild.

„Kein Ding. Ich hatte die Nacht schon zwei Stunden für mich allein, das wird reichen müssen. Was treibt dich hierher?“

„Gute Frage“, seufzte der Mann. Nach einigen Momenten der Stille und weiteren Zügen an der Kippe fuhr er fort: „Ich konnte gewissermaßen auch nicht schlafen. Habe bis Mitternacht gearbeitet und kam dann komplett tot nach Hause in meine Zwei-Zimmer-Wohnung. Da war ich dann plötzlich wach, obwohl ich komplett im Arsch war und es jetzt noch bin.“

Die Zigarette zwischen seinen Fingern schrumpfte erneut um einige Millimeter und etwas Asche fiel hinab auf die Jacke des Fremden. Er bemerkte es nicht.

„Da hat mich irgendwie alles … die ganze Situation hat mich einfach wütend gemacht und krank, und ich hab in mein Zimmer geschrien und gegen die Wand geschlagen. Danach bin ich weg, weil ich da raus musste. Ich hatte das Gefühl, dass frische Luft mich vielleicht beruhigen könnte, also bin ich los und durch die Straßen gerannt, bis ich hier angekommen bin.“

„Was hat dich denn so wütend gemacht?“, fragte Viktor, während er sich eine weitere Kippe aus dem Päckchen zog und dann dem Fremden die offene Packung anbot, der seine Zigarette schon fast vernichtet hatte. „Viktor, übrigens.“

„Paul. Danke.“ Er nahm sich eine weitere Zigarette aus der Schachtel und beugte sich herüber. Nach dem Anzünden antwortete er: „Keine Ahnung, alles irgendwie. Mein Job, meine Wohnung, dass ich so viel mache und trotzdem nichts vorangeht. Dass ich das Gefühl habe, als würde ich mein Leben verschwenden, dass sich niemand meldet und ich mich alt fühle, als würde ich seit 30 Jahren hart buckeln. Die ganze Scheiße ist frustrierend.“

„Kann ich verstehen, die Frustration“, antwortete Viktor und kratzte sich an den Bartstoppeln. Seine Augen ruhten auf der Zigarette zwischen den Lippen Pauls, welcher diese innerhalb weniger Züge auf die halbe Länge reduziert hatte.

„Ich bin seit 4 Jahren single, seh meine Eltern an Weihnachten und Ostern und hänge jeden zweiten Abend einfach rum, ohne einen Plan zu haben, was ich mit der wenigen Freizeit anfangen soll, die ich habe. In manchen Wochen ist das dann jeden Abend so.“

„Und dann hängst du hier rum?“, fragte Paul.

„Meistens, ja“, seufzte Viktor. „Hier bekomme ich wenigstens keine Whatsapp-Nachrichten. Und den Kopf manchmal ein bisschen frei.“

Beide blickten in den Himmel und zogen an ihren Kippen. Einige Minuten sprach keiner von beiden, nur das Knistern der Glut und das Ausatmen der beiden war zu hören, welches sich immer weiter harmonisierte. Über ihnen knatterte ein Helikopter durch die Stille und störte den Frieden, der sich wie ein Moment anfühlte, in welchem die Welt still stand. Viktor verzog den Mund.

„Scheiß Maschinen“, fluchte er abschätzig und spuckte aus. „Jetzt zerstören sie einem auch noch das bisschen Leben, das noch ohne Technik funktioniert.“

„Wäre es dir ohne lieber?“, fragte Paul und streifte Viktor mit einem argwöhnischen Seitenblick.

„Manchmal, ja“, erwiderte Viktor, zog die nächste Zigarette aus der Packung und klemmte sie sich zwischen die Zähne. „Aber leider ist man heutzutage ja kein ganzer Mensch mehr ohne Smartphone, Tablet und Alexa.“

Paul sagte nichts, lehnte sich zurück und stützte sich auf seine Ellenbogen, mittlerweile durch das Nikotin sichtbar entspannt. Nachdem Viktor seine Zigarette angezündet und sein Feuerzeug aus der Tasche gekramt hatte, fügte er hinzu:

„Zugegebenermaßen ist die Technik ja sehr praktisch. Aber oft fühl ich mich von ihr eingeengt. Manchmal will ich einfach keine Musik hören und keine Nachrichten lesen. Manchmal will ich nicht wissen, was in der Welt so passiert, sondern einfach nur an nichts denken und es genießen, verstehst du?“

„Ja, ich verstehe es“, gab Paul zurück. „Ich kriege manchmal das Gefühl, dass nicht ich mein Handy benutze, um irgendetwas zu erfahren, sondern dass mein Handy mich mit Informationen zwangsernährt. Als hätte ich das nicht unter Kontrolle.“

„Exakt.“, erwiderte Viktor und nickte. „Es ist, als hätte man kein Mitspracherecht, als würde das Teil dir sagen, was dich zu interessieren hat, nur, weil es weiß, was dich sonst so interessiert.“

„Kranke Scheiße, wenn man so darüber nachdenkt“, gab Paul zu bedenken und legte den Kopf in den Nacken.

„Ja“, sagte Viktor und zuckte mit den Schultern, bevor er den nächsten Zug nahm. „Ich denke schon. Aber andererseits, was im Leben ist nicht krank, wenn man länger darüber nachdenkt?“

Paul fiel keine rechte Antwort ein, also schwieg er. Als seine Zigarette abgebrannt war, fragte er nach keiner weiteren. Viktor bot ihm dennoch eine an und kurz darauf flackerte erneut das Feuer hinter seiner Hand als Windschutz auf. Ein paar Minuten herrschte wieder Stille.

„Hast du ‘ne Freundin?“, brach Viktor das Schweigen.

„Nein.“

„Wieso nicht?“

„Weiß nicht. Hat nie so recht geklappt.“

„Hm.“

Paul drückte den Kippenstummel im Gras aus und ließ sich auf den Rücken fallen. Mit den Armen hinter seinem Kopf verschränkt blickte er hinauf in die Sterne und atmete langsam und tief. Von hier unten sah alles so klein aus, und doch so gigantisch. Ein Meer aus weit entfernten Welten, alle auf eine Karte gebracht, um ihn von hoch oben zu betrachten. Aus deren Perspektive waren seine Probleme wohl nichts wert.

Auch Viktor blickte hinauf und genauso wie Paul empfand er sich plötzlich als unbedeutend vor der Welt. Ein Teil in ihm fand das beängstigend, ein anderer begrüßte diese Ansicht. Er drückte seine Zigarette auf seinem Handrücken aus und verzog vor Schmerz das Gesicht.

„Was denkst du“, fragte Paul und ließ Viktor aufschrecken, „wie viele schauen da noch gerade hoch?“

Paul starrte in die Höhe. Er hatte nichts bemerkt.

„Keine Ahnung“, murmelte Viktor, „aber ich hoffe, dass es nicht allzu viele aus ähnlichen Gründen tun wie du und ich.“

Paul nickte. Nach einer weiteren Minute des Schweigens setzte er sich auf und rieb seine Hände aneinander, um die Kälte des Grases aus ihnen zu vertreiben.

„Weißt du“, sagte er, „manchmal, da denke ich, dass ich vielleicht einfach abhauen sollte. Scheißegal wohin, einfach weg, egal für wie lange. Einfach den ganzen Scheiß liegen lassen; Handy, Schlüssel und Ausweis da lassen und raus. Niemandem Bescheid sagen und nur ein bisschen Geld mitnehmen, um sich was zu essen zu kaufen.“

„Das Gefühl kenn’ ich“, erwiderte Viktor und seufzte. „Aber dann setzt die Logik wieder ein: ‚Das kannst du nicht machen, denk an deine Eltern, du hast Verpflichtungen‘, bla bla bla. Und am Ende macht mans nicht, obwohl es wahrscheinlich das einzig richtige wäre.“ Nach diesen Worten seufzte er erneut und ließ die Hände, die er zum Gestikulieren erhoben hatte, wieder sinken. Paul fuhr sich mit einer Hand über den kahlen Schädel und kratzte sich am Hinterkopf.

„Tja“, sagte er heiser und hustete. „Ich schätze, dass das einfach der vernünftige Teil in einem ist, der weiß, dass man damit zu viele Risiken eingeht. Vielleicht ist das die Erziehung, die einem sagt, dass man nicht aus dem Muster ausbrechen und gegen Regeln verstoßen soll, weil sich das nicht gehört.“

„Vielleicht ist der Teil gar nicht so vernünftig, wie er meint“, brummte Viktor.

„Vielleicht vergisst er, dass man auf die Art sehr schnell sehr unglücklich werden kann.“

„Wer weiß“, murmelte Viktor, als Paul nicht antwortete, und zuckte mit den Schultern. Dann ließ er sich ins Gras fallen. Am Horizont zeigten sich die ersten Sonnenstrahlen eines neuen Tages, welche die Karte der Welten über den beiden Männern langsam verblassen ließen. Ein Blick auf die Uhr sagte Viktor, dass es fast fünf war.

„Was denkst du, wie geht’s jetzt weiter?“, fragte er. „Was macht man nach so einer Nacht?“

Dabei deutete er gen Himmel, wie um diesen für seine Wachheit verantwortlich zu machen.

„Keine Ahnung“, antwortete Paul. „Nach Hause gehen, hinlegen, einschlafen und morgen von vorne anfangen, bis ich nicht mehr kann. Irgendwann wieder ausrasten und ein paar Tage wie im Koma verbringen, und dann nochmal. Das hier ist nur eine Zwischensequenz zwischen zwei Phasen der Unzufriedenheit.“

Da mittlerweile nur noch der Mond eindeutig zu erkennen war, riss Paul sich vom Anblick des Himmels los und ließ den Kopf sinken.

„Keine Ahnung, wie lange ich das noch durchhalte“, murmelte er resigniert. „Es fühlt sich an, als würde irgendetwas in mir langsam zerbrechen, wenn ich so weiterlebe. Aber ich weiß weder, was es ist, noch wie ich es reparieren kann.“

Dann, nach einer Pause: „Und du? Was machst du nach so einer Nacht?“

„Nach Hause gehen und weitermachen“, sagte Viktor und grinste müde. „Ein bisschen vor mich hin leben, ohne einen Plan zu haben, warum und wozu. Dann und wann ein bisschen lachen, dann und wann ein bisschen heulen … wenn es zu schlimm wird, komme ich hierher und versuche, nicht auszurasten. Und dann weitermachen.“

„Gute Aussichten, was?“, spottete Paul.

„Ja“, antwortete Viktor. Kurz flog ein Lächeln über sein Gesicht, das gleich wieder verschwand und nur Resignation zurückließ.

„Ja, in der Tat.“ Dann zog er nochmal an seiner Zigarette, bevor er sie auf seinem Handrücken ausdrückte.

©Alex Fu auf Pexels.com

Kleine Wunder

Na, wie gefällt dir die Aussicht, X73?

Ich verstehe deine Begeisterung nicht.

Was ist besonders an Blumen, Büschen, Bäumen?

Ach X73, sie erlauben mir zu träumen.

 

Siehst du hinter dem verfallen Tor,

spitzeln Schneeglöckchen hervor.

Meine Kamera hat das Tor erfasst,

und sogleich eine Reparatur veranlasst.

 

Und schau, ein Spatz auf einem Aste hüpft,

sich mit dem Schnabel eine Beere pflückt.

Wenn du hungrig bist,

ein McDonald’s in 15 Kilometern Nähe ist.

 

Spürst du, wie der frische Wind mich streift,

meine Sorgen er ergreift.

Die Windgeschwindigkeit beträgt 9 kmh,

ab 40 wird sie zur Gefahr!

 

Der Wind trägt fort meine Zweifel, Ängste,

die dunklen Gedanken, das Schlimmste.

Geht es dir gut? Bist du wohlauf?

Ich werde aus deinen Sätzen nicht schlau.

Ja X73, mir geht es wunderbar.

Helle Sonnenstrahlen wärmen meine Haut,

ein Lachen wird in meiner Kehle laut.

Ach, wäre ich wie du ein Mensch,

könnte ich dich verstehn.

X73, sagt das nicht,

du bist perfekt so wie du bist!

 

Auch eine Maschine wie du kann lernen,

den kleinen Wundern Beachtung zu schenken!

© Franziska Riesinger