Kein Kind von Traurigkeit

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Teil 1

Es hätte für niemanden überraschend sein sollen. Die Anzeichen waren schon lange da gewesen. Jahrelang. Und das auch eigentlich recht deutlich. Ob sie die vielen Verdachtsmomente nicht sehen konnten oder ob sie sie letztendlich nicht sehen wollten, das wusste am Schluss aber niemand mehr so genau.

Die Sonne versank langsam hinter dem Panorama der Zugspitze als sich auch der Rest der kleinen Gruppe langsam von der Dachterrasse verabschiedete. Der Anreisetag war lang und anstrengend gewesen und weil man morgen sehr früh zum Wandern aufbrechen wollte, war es wohl besser zeitig ins Bett zu gehen. Anitas Weinglas war das letzte, was noch halbvoll auf dem Tisch stand und so riet sie den Anderen vorzugehen, wie würde dann nachkommen. Sie ließ sich er-schöpft auf einen der Holzstühle fallen und steckte sich seufzend eine Zigarette an. 

Als ich am nächsten Morgen die Bettdecke zurückschlug war ich allein und das kleine Zimmer der Berghütte war merkwürdig still. Die Anderen waren wohl schon aufgestanden. Zum Glück. Ein Moment allein tat wirklich gut. Ein bisschen komisch war es schon, mit fast Fremden in einem Zimmer zu schlafen. Naja, so fremd waren sie ja nun auch wieder nicht, oder? Zugegeben sah ich Lars und Henning nur einmal im Jahr. Aber eigentlich kannte man einander ja. Wenigstens konnte ich mir mit den Beiden ein Zimmer teilen, und musste nicht bei Erik und Anita oder bei Elli und Andrea schlafen. Alle vier durch und durch eigentlich unsympathische Personen. Das nächste Mal sag ich einfach ab dachte ich mir, während ich mich noch schlaftrunken einen Pullover über-warf. Ich wusste genau, dass ich das nicht machen würde. Denn genau das hatte ich bis jetzt je-des Mal gesagt. Und jedes Mal war ich letztendlich doch mitgefahren, ohne so recht zu wissen wieso. Es graute mir immer vor den gemeinsamen Wochenenden. Nur auf Lars und Henning freu-te ich mich jedes Mal. Die zwei hatte ich schon während dem Studium am Liebsten gehabt. Im Gegensatz zu den Anderen. Erik und Anita waren älter als der Rest und verstanden sich deswegen auch schon immer als ‚Anführer‘ der kleinen Truppe und Elli und Andrea hatten schon immer alles getan um deren Gunst nicht zu verlieren. Furchtbar.   

In dem Moment, in dem ich die Küche im Erdgeschoss betrat, wusste ich, das etwas nicht stimmte. Von der gespielten Gute-Laune-Gesellschaft, von der die bisherigen Treffen nur so trieften, war nichts mehr übrig. “Anita ist weg.” “Wie weg?” fragend sah ich in die Runde. “Sie ist heute Nacht nicht mehr nachgekommen. Ich bin aufgewacht, und ihre Bettseite war leer.” Eriks dunkle Augen starrten in meine Richtung. Aber er schaute mich nicht an. Er sah durch mich hindurch. „Vielleicht ist sie einfach nur auf der Dachterrasse eingeschlaf-“ „Meinst du wirklich da hätten wir nicht schon nachgesehen?“ entnervt stand Erik auf, drängelte sich an mir vorbei und hastete aus der Küche. „Wir haben die Polizei schon informiert, aber wegen des unerwarteten Schneesturms gestern
Nacht haben die gerade genug zu tun, sie wissen nicht bis wann  sie kommen können und ob die Wege hier rauf überhaupt befahrbar sind, ist auch noch nicht klar.“ meinte Lars. Ich blickte aus dem Fenster und tatsächlich, von dem sonnigen spätherbstlichen Wetter von gestern war nichts mehr zu sehen. Stattdessen fielen dicke Flocken vom Himmel. „Wir sollten erst einmal das ganze Haus absuchen.“ schlug Lars vor. Elli und Andrea nickten zustimmend. „Ich bin dafür, dass wir draußen suchen. Vielleicht hat sie gestern wieder einmal noch einen über den Durst getrunken und sich dann draußen verlaufen.“ Wieder einmal. Henning hatte nicht Unrecht. Es war nicht ganz untypisch für Anita, ihr Limit (was Alkohol belangt) zu überschätzen. Was, wie man so mitbekam, auch schon des Öfteren zu Streitigkeiten zwischen Erik und ihr geführt hatte. Wenn Anita zu viel erwischte, wurde sie ihm und auch anderen meistens zu viel. Zu laut, zu selbstgefällig und zu ehrlich (was in ihrem Fall meistens beleidigend bedeutete). „Aber da könnte sie ja überall stecken, wo willst du da zum Suchen anfangen?“ warf Elli ein. Ich fand, dass sie ausnahmsweise mal Recht hatte. 

Wir einigten uns darauf zuerst die ganze Hütte zu durchsuchen. Als ich gerade noch überlegte wo ich mit der Suche beginnen sollte, spürte ich wie sich Erleichterung in mir breit machte und eine Anspannung von mir wich, von der ich vorher nicht wusste, dass sie mich geplagt hatte. Keine Anita – keine abwertenden Blicke, kein bemitleidendes Lachen und keine bissigen Kommentare. Ich war erschrocken über meine Gedanken. Hoffentlich war ihr nichts passiert, dachte ich beschämt. Aber vielleicht war das auch nur schon wieder so eine Aufmerksamkeitsaktion von ihr. Wäre ja nicht das erste Mal. Mich schüttelte es. Halt. So etwas wollte ich nicht denken.

Als ich auf die Dachterrasse trat, knirschte der frisch gefallene Schnee unter meinen Füßen. Erik stand mit dem Rücken zu mir und blickte in Richtung der schneebedeckten Zugspitze. Mein Blick fiel auf die Sitzgruppe auf der wir am Tag zuvor noch alle zusammen lachend Wein getrunken hatten. Komisch. Rückblickend war es tatsächlich ein schöner Abend gewesen. Vielleicht lag es am Alkohol aber ausnahmsweise hatten Erik und Anita ihr abgehobenes Verhalten abgelegt und waren richtig lustig drauf gewesen. Es hatte sich so angefühlt als wären wir Sieben richtige Freunde. Eine kleine eingeschworene Gruppe an alten Studienkollegen. Seltsam. Seltsam schön..

„Wir haben die Sauerei von gestern schon aufgeräumt, da findest du nichts mehr.“ Er drehte sich um. Ich erschrak. Er wirkte auf einmal so viel älter. Seine Augen waren dunkel umrandet und seine Haare standen wirr in alle Richtungen. „Anita… Hat sie…“ er stockte. „Ich meine, hat sie etwas zu dir ge-sagt?“. Verwirrt sah ich ihn an. Als hätte Anita jemals wirklich mit mir geredet. „Wie, ich meine…nein, was meinst du?“ Sein Blick durchbohrte mich. „Ich… ich weiß wirklich nicht was du meinst?“ ich trat einen Schritt zurück. Seufzend wandte er seinen Blick ab und stützte sich erschöpft an das Geländer der Terrasse. „Vorhin, als wir die Weingläser weggeräumt haben… da habe ich etwas gefunden.“ Er blickte auf und wieder schien er an mir vorbei zu starren. Als würde ich nicht existieren. „Was?“ Schweigend zog er etwas kleines Weißes aus seiner Hosentasche und hielt es mir unter die Nase. Ein Tablettenröhrchen? Es war nicht beschriftet. Ich nahm es ihm aus der Hand und öffnete den kleinen Verschluss. Leer. Verwirrt blickte ich Erik an. „Die war gestern noch fast voll.“ „Was sind denn das für-“ „Genau weiß ich es auch nicht.“ Erschöpft rieb er seine Schläfen. „Sie nimmt die manchmal um zu Entspannen. Aber vielleicht eine am Abend zum Einschlafen. Nicht die ganze Packung.“ „Du meinst doch nicht etwa, dass -?“ Sein leerer Blick brachte mich zum Schweigen. 

Gespannt wie es weitergeht? Das erfahrt ihr bald im zweiten Teil!