Von Gurken, die auf Bäumen wachsen

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Die Gurke, das Gemüse des Jahres 2020, gehört zur Familie der Kürbisgewächse. Während Feld- und Essiggurken im Beet am Boden liegend wachsen, benötigen Salatgurken ein Rankengerüst. Dass man Gurken aber auch am Baum züchten kann, war neu für mich. Meine Oma erzählte begeistert davon: Sie hat da ein Video gesehen. Leere Plastikflaschen oben aufschneiden, mit Erde füllen und den Keimling so unten einstecken, dass er aus dem Flaschenhals herauswächst. Die Flaschen an Bäumen aufhängen, sodass die Gurke nach unten herauswächst, selbst vom Baum hängend. Tolle Idee. Das probiert sie doch glatt aus.

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Auch das ist neu: Meine Oma ist jetzt im Internet. Mit 85 Jahren nimmt sie zum ersten Mal ein Tablet in die Hand und ist im Internet unterwegs, auf der roten, der blauen oder der grünen App. Einfach alles gebe es da, einfach toll. Beethovens 6., 7., 8., 9., einen Schokokuchen, den bäckt sie morgen nach. Ob ich Grünkohlauflauf kenne? Sie auch noch nicht, seit 20 Jahren hat sie keinen Grünkohl mehr gekauft, aber im Internet, da gibt es den und schwer sah das da auch nicht aus.

Meine Oma war sehr skeptisch am Anfang, ob sie das noch lernen kann, mit dem Internet. Als der Nachbar, ein alter Schulkamerad, ihr vor einigen Jahren einmal erzählte, dass er „da dabei sei“, war ihr das noch recht suspekt. Sowas brauche sie nicht, sie habe ja genug zu tun, und verstehen würde sie da sowieso gar nichts von. Das stimmte auch, verstehen tat sie davon nichts. Denn dass die Buchstaben auf einer Tastatur in einer bestimmten Reihenfolge (nicht alphabetisch) angeordnet sind, ist genauso wenig verständlich, wie das ein „Pausenzeichen“ aussieht wie zwei mahnend in die Luft gereckte Zeigefinger oder dass 2.320.000 Suchergebnisse in 0,40 Sekunden erscheinen, wenn man „Gartentipps“ bei Google sucht. Das ist für Digital Natives manchmal unbegreifbar und oft lustig – sollte aber kein Problem sein, solange das zu wohlwollendem Schmunzeln führt.

Diesen Winter packte meine Oma dann die Neugier. Ein altes iPad 4 aus meiner Schulzeit konnten wir entbehren und das WLAN reichte vom Haus meiner Eltern bis ins Nebenhaus zu ihr. Seit Dezember schreiben wir Anleitungen und sitzen beim Lernen manchmal neben ihr. Dass sie das Internet nun doch „braucht“, würde sie dem Nachbar gegenüber nie zugeben. Doch die Ideen sprudeln mit den Google Ergebnissen nur so aus iPad und Oma heraus.

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Heute komme ich sie besuchen, es gibt Kaffee. Kekse werden auf den Tisch gestellt, der Duft des frisch gemahlenen Pulvers zieht in meine Nase, lange bevor mir der heiße Kaffee die Zunge verbrennt. Denn an der Kaffeemaschine stehend fällt meiner Oma die nächste Geschichte ein – ein anderes Projekt. Ob sie mir schon erzählt habe, dass sie jetzt Sütterlin lernt? Diesmal bejahe ich, das Projekt ist mir bekannt. Sütterlin wurde bis 1942 an deutschen Schulen gelehrt, die Buchstaben sehen in ihr ebenso elegant wie krakelig aus. Ein bisschen wie meine Oma. Sie selbst hat die Schrift aber nicht mehr gelernt; sie kann die Briefe, die ihr Papa im Schützengraben geschrieben hat, nicht lesen. Die Briefe kamen aus dem Krieg zurück, mein Uropa nicht. 78 Jahre später belebt seine Tochter nun die Geschichte neu, seine Geschichte, und lernt Sütterlin im Internet. A, a, B, b, C, c, D, d, E, e, damit kann man schon Ade, Bad, Da und Bea schreiben. Den Rest lernt sie auch noch.

Als die Geschichte zu Ende ist, ein paar historische Ausschweifung und Projekte später, ist mein Kaffee leer und Omas Kaffee kalt. Und so gern ich meinen Kaffee auch heiß trinke, so sehr bewundere ich diese Frau für ihre Passion. Mit 23 auf der Suche nach neuen Ideen und Input zu sein ist spannend. Mit 85 so energiegeladen zu sein wie meine Oma, ist revolutionär. Darum geht es hier. Und nicht – ihr habt es schon selbst gemerkt – um Gurken, die an Bäumen wachsen. Bis ich 85 bin, werde ich daran arbeiten, so weltoffen und innovativ zu sein wie sie.  Oder auch länger, man weiß ja nie. Vielleicht gibt es dazu einen Tipp im Internet?

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