Überall nur Sex? Eine Geschichte von Macht, Medien und Möglichkeiten

© Dainis Graveris via Pexels

 Das ist der dritte Artikel unserer Presstige-Themenwoche. Die ganze Woche über präsentieren wir euch hier Beiträge zu Themen der sexuellen Vielfalt und Aufklärung. Viel Spaß beim Lesen!

Der Titel unserer Themenwoche lautet „Let`s talk about sex!“. Aber reden wir überhaupt gerne über Sex? Oder anders gefragt: Reden wir genug über Sexualität? Über diese Fragen streiten sich die Geister. Manche beklagen, dass der offene Umgang mit der eigenen Sexualität in Deutschland zum größten Teil immer noch tabuisiert ist und wieder andere beschweren sich über eine Omnipräsenz des Sexes in den Medien. Wie steht es also wirklich um die Beziehung unserer Gesellschaft zum Thema Sexualität?

Sexy, sexy, sexy? Ein ganz normaler Morgen in Augsburg

Tram in Augsburg Foto ©Charlotte Theis

Ich stehe am Königsplatz und beobachte das Kommen und Gehen der Passant:innen, welche teils hastig zu ihren Haltestellen rennen und teils gelangweilt auf ihre Smartphones blicken. Gegenüber von mir hält eine Straßenbahn an und öffnet ihre Türen. Mein Blick fällt auf die Werbung, die die Seite der Straßenbahn ziert. Eine blonde, blauäugige Frau räkelt sich lasziv auf einem Sofa und blickt mir scheinbar unterwürfig und gewollt verführerisch in die Augen. Es handelt sich um eine Werbung für ein Möbelhaus, dessen Marketingabteilung es anscheinend für einleuchtend hielt, dass sich Möbel besser verkaufen, wenn man sie mit einer Frau, inszeniert als ‘Dekostück‘, aufhübscht. Ich wende meinen Blick ab und bemerke einen Mann der schräg neben mir in einer Zeitschrift blättert. Auf dem Cover des Blattes erspähe ich eine Schauspielerin, gekleidet in einem kurzen Kleid mit tiefem Ausschnitt. Ich wende mich erneut ab, um in meine Tram steigen zu können und mich erschöpft auf einen Sitz fallen zu lassen. Gerade will ich meine Kopfhörer in die Ohren stecken, als ich hinter mir zwei männliche, jugendliche Stimmen wahrnehme. Ich versuche genauer hinzuhören und kann die Wörter „sexy“, „neues Musikvideo“ und „Shirin David“ aufschnappen…

Sex sells...

So oder so ähnlich kann schon Mal ein Morgen in der Augsburger Innenstadt aussehen und es lässt mich fragen: Ist unsere Gesellschaft hypersexualisiert? Tatsächlich wurde schon 2010 in wissenschaftlichen Studien von einer zunehmenden Verbreitung pornografischer Stilelemente in der Popkultur berichtet. Demzufolge ist Sex, beziehungsweise „Sexiness“ immer wieder Gegenstand in Werbungen, Filmen, Musikvideos und Songtexten des Mainstreams. Unabhängig davon, ob es selbstbestimmte Darstellungen von Musikerinnen wie Shirin David oder Miley Cyrus sind oder die hochproblematische Degradierung von Frauen* im männlich dominierten Deutschrap – konsumiert man heutzutage Medien, kommt man an einer gewissen Portion Sex nicht vorbei. Daran wäre ja erstmal nichts auszusetzen, wenn nicht mit der Sexualisierung der Massenmedien eine Inszenierung von Mädchen* und Frauen* als Objekte der männlichen Begierde einhergehen würde. So sind Frauen beispielsweise in jedem zweiten Musikvideo der Charts extrem dünn und tragen Kleidung, die sie sexualisiert, was bei ihren männlichen Kollegen nur in zwei von zehn Videos der Fall ist. Noch deutlicher wird die Geschlechterdiskriminierung, wenn man sich die Darstellung der Frauen durch visuelle Gestaltungsmittel, wie beispielsweise Kameraeinstellungen, genauer anschaut. Hier fällt auf, dass in mehr als der Hälfte der Musikvideos Frauen kopflos gezeigt wurden, was schlussfolgernd bedeutet, dass sie auf ihre Körper reduziert und ihnen jegliche Charaktereigenschaften abgesprochen werden (Malisa-Studie). Die so gezeigten Frauen entsprechen in den meisten Fällen westlichen Schönheitsidealen. Sie sind also groß und schlank, haben lange Haare, große Brüste und natürlich glatt rasierte lange Beine. Durch diese Dominanz der immer gleichen, idealisierten Körper wird uns eine genaue Vorstellung von dem gegeben, was „sexy“ sein soll. Laut Medienwissenschaftler:innen sind die Folgen dieser Konfrontation mit unrealisitischen Idealen nicht zu unterschätzen. Es gibt einige Studien, die den Zusammenhang zwischen der Körperwahrnehmung junger Menschen und der Rezeption von Medien, die idealisierte Frauenbilder präsentieren, festgestellt haben. Seien es die Push-Up-BH’s, Tangas oder das Rasieren der Intimzone – ein Großteil der Frauen* orientiert sich an den vorgelebten Schönheitsidealen. Und auch wenn wahrscheinlich viele angeben würden, dass sie dies freiwillig und selbstbestimmt tun, lässt sich zumindest eine indirekte Beeinflussung nicht leugnen. Die von der Wissenschaft befürchteten Folgen der Medien-Sexualisierung sind die Verfestigung eines abwertenden Frauenbildes, zwischenmenschliche Abstumpfung, psychischer Druck, sowie die Unzufriedenheit mit dem eigenen Sexualleben.

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Aber ist Sex nicht ein Tabuthema?

Im Jahre 2009 gaben 64% der Bevölkerung in einer Erhebung an, dass Sexualität mit zu den Themen gehört, über die man sich nur ungern mit anderen austauscht. Neben dem Gespräch über das eigene finanzielle Einkommen zählt Sex somit zu einem der Tabuthemen in Deutschland. Dies offenbart sich unter anderem in der Mystifizierung der weiblichen Sexualität und darin, dass Menschen, die sexuellen Minoritäten angehören, immernoch häufig Diskriminierungen und Stigmatisierungen ausgesetzt sind. Hier fehlt es also an einer ehrlichen Präsentation in den Medien, die dabei helfen könnte, die sexuelle Vielfalt zu normalisieren. Habe ich vorhin festgestellt, dass Sexiness omnipräsent im Alltag ist, so scheint trotzdem das Ziel eines offenen Dialoges über Sex, ohne Angst vor Diskriminierung oder Scham, noch nicht erreicht zu sein.

© Charlotte Theis

Und jetzt? Let's talk about sex!

Ich denke, dass die pauschale Verteufelung des Themas und die Erklärung zum Tabu, die vorhin angesprochenen Probleme nicht mindern würde. Was unsere Gesellschaft vielmehr braucht, ist eine Anerkennung, wie vielseitig das Thema ‘Sex‘ doch ist. Mit dieser Sichtweise würden mehr Repräsentationen von Sexualität außerhalb der Heteronormative einhergehen, sowie mehr Vorstellungen von dem, was überhaupt ‘sexy‘ ist. Zusammengefasst würde das schlichtweg mehr Realität bedeuten und weniger durch Erwartungshaltungen und stereotype Rollenbilder beeinflusste Scheinwelten. Medien können ruhig mal alle Menschen miteinbeziehen: Von Asexuellen über ältere Menschen bis hin zu Menschen, die nicht dem Schönheitsideal entsprechen. Denn surprise, surprise: Auch die können Sex haben! Im Gegenzug könnte es von der heteronormativen, objektifizierenden und aufdringlichen Thematisierung von Sex, wie beispielsweise in gewissen Möbelhauswerbungen, gerne weniger geben. Sex sollte in einer offenen Gesellschaft frei thematisiert werden können, aber wenn dabei Machtverhältnisse ausgespielt und Frauen* stigmatisiert werden, widerspricht das genau den Werten, die eine offene Gesellschaft ausmachen sollten.

Also lasst uns die Grenzen von Normalität und Abnormalität verschieben. Lasst uns Vielfalt zelebrieren. Lasst uns Vorlieben nicht als pervers abstempeln. Lasst uns Äußerlichkeiten hinten anstellen. Lasst uns offener sein und respektvoll miteinander umgehen. Und dann: Let’s talk about sex!

Quellen:

https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0010-3497-2016-3-255.pdf?download_full_pdf=1

https://www.sueddeutsche.de/leben/tabuthema-sex-das-bleibt-unter-uns-1.490040

https://www.ifd-allensbach.de/fileadmin/kurzberichte_dokumentationen/prd_0903.pdf

http://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/Digital/Goetz_Eckhardt-Rodriguez-Musikvideos.pdf

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