Die Arbeit in der Inobhutnahme

In unserer Artikelreihe „Unsere stillen Held:innen“ geht es um die Menschen, ohne die ein Leben vor allem in Pandemie-Zeiten nicht denkbar wäre. Im letzen Interview haben wir uns genauer mit den Tierheimen in der Pandemie beschäftigt. Heute erfahren wir mehr über die Arbeit in einer Inobhutnahmestelle. Gerade in Zeiten einer Pandemie ist es wichtig, dass Kinder geschützt werden. Die Gewalt in Familien nimmt drastisch zu.

Hinweis: Das folgende Interview wurde bereits Anfang Juni geführt.

Unsere stillen Held:innen

Julia W. ist eine 21-jährige Studentin. Die gebürtige Augsburgerin studiert in Esslingen im 4. Semester Kindheitspädagogik und macht momentan ihr Praxissemester in der Inobhutnahme im Jugendamt Stuttgart. 

© Julia W.

Hallo Julia, schön, dass du dir die Zeit genommen hast und uns einen Einblick in dein Praxissemster gibst. Warum hast du dich für das Studium der Kindheitspädagogik entschieden?

Schon während meiner Schulzeit habe ich viele Praktika in Kindergärten oder auch in der Grundschule für gehörgeschädigte Kinder gemacht. Es war für mich klar, dass ich in die soziale Richtung gehen werde. Ich wusste aber nicht genau was. Nach der Schule habe ich dann einen Au-pair Aufenthalt im Ausland gemacht. Da habe ich gemerkt, dass mir die Arbeit mit Kindern Spaß macht und sie mir auch liegt. Als ich dann wieder nach Hause kam, hab ich verschiedene Tests durchgeführt, die einem bei der Studienfachwahl helfen, und da kam unter anderem auch Kindheitspädagogik raus.

Wie genau ist dein Studium strukturiert, ist es eher praxisorientiert oder mehr theoretisch?

Wir haben in den ersten drei Semestern eine Praxiswoche mit je unterschiedlichen Altersschwerpunkten. Im ersten Semester sollen wir uns eine Einrichtung von Kindern im Alter von 0 bis 3 Jahren suchen. Im zweiten Semester dann von 6 bis 10 und im dritten Semester von 3 bis 6 Jahren. Eine Woche ist zwar nicht lang, aber tatsächlich sind die Wochen sehr prägnant. Auch bekommt man für jede Woche eine entsprechende Aufgabe. Ich musste damals z.B. Situationen protokollieren. Bei mir ist leider die zweite und dritte Praxiswoche aufgrund von Covid-19 ausgefallen. Im vierten Semester findet das Praxissemester statt. Dort muss man 100 Tage in einer sozialen Einrichtung für Kinder arbeiten. Im 5. Und 6. Semester findet das Projektstudium statt, in welchem die Studierenden zum Teil auch in Kooperation mit der Praxis oder mit anderen Studiengängen eine Problemstellung praktisch bearbeiten.

Du hast ja gerade das Praxissemester angesprochen. Warum hast du dich dazu entschieden, es bei der Inobhutnahme vom Jugendamt Stuttgart zu machen?

Ich habe mir von Anfang an in den Kopf gesetzt: Ich möchte mein Praxissemester im Jugendamt Stuttgart machen. Einen genaueren Grund gibt es dafür nicht. Ich wollte in den Bereich „Hilfe zur Erziehung“, da er mich interessiert und ich neue Herausforderungen erleben wollte. Ich habe mich allgemein für diesen Bereich beworben und auch eine Zusage bekommen. Meine Bewerbung galt nicht spezifisch der Inobhutnahme, ich musste mich am Anfang selbst darüber informieren. Es kam dann zu einem Gespräch, bei welchem ich mich sehr wohl gefühlt habe. Trotz der Zweifel, ob ich es schaffe dort zu arbeiten, habe ich mich dafür entschieden.

Kannst du vielleicht kurz erklären, welche Aufgaben die Inobhutnahme beim Jugendamt übernimmt?

Die Inobhutnahmestelle, die ein Teil des Jugendamtes ist, ist dafür da, Familien und vor allem Kindern in Krisensituationen zu helfen. Bevor eine Situation eskaliert, manchmal auch wenn sie schon eskaliert ist, kann sich das Kind als sogenannte Selbstmelder:in an das Jugendamt wenden. Dies können natürlich auch die Eltern oder Außenstehende (Schulen, Kitas, Nachbarn, Familienangehörige, Passant:innen etc.) tun. Es geht hauptsächlich um den Schutzauftrag vom Jugendamt, damit dem Kind keine akute Gefahr droht. Durch diesen Schutzauftrag vor einer Kindeswohlgefährdung wird dann ein Kind in Obhut genommen.

Es gibt vom Jugendamt verschiedene Kooperationspartner, die das Jugendamt auf ein Kind bzw. auf einen Jugendlichen in einer Notsituation aufmerksam machen. Einer der wichtigsten Kooperationspartner ist die Polizei.

„Großes Lob an die Eltern, die sich selbst eingestehen, dass sie es nicht mehr schaffen und sich Hilfe holen.“

Die Mitarbeiter:innen vom Beratungszentrum (Jugendamt), prüfen die Situation vor Ort. Dort wird sofort entschieden, ob die Polizei, oder ein:e andere:r Kooperationspartner:in, das Kind zu uns bringt. Die Inobhutnahmestelle ist ja dafür da, das Kind zu schützen und aus der eskalierenden Situation herauszunehmen. Das Kind kommt dann eine Nacht zu uns und es wird versucht, eine Lösung zu finden. Es wird mit den Eltern Kontakt aufgenommen und die Situation wird im Laufe der nächsten Stunden oder Tage versucht zu klären.

Die Eltern werden in der Regel von den Fallzuständigen vom Beratungszentrum telefonisch informiert. Die Eltern bzw. die Sorgeberechtigten müssen der Inobhutnahme ihres Kindes zustimmen. Wenn sie dies nicht machen, wird ein Eilantrag beim Familiengericht angesetzt, welcher so schnell wie möglich bearbeitet wird. Das Familiengericht entscheidet dann, wie es mit dem Kind weitergeht.

Aber ich würde sagen, dass in den meisten Fällen die Eltern der Inobhutnahme ihres Kindes zustimmen.  Auch die Kinder, gerade wenn es Selbstmelder:innen sind, sind in der Regel froh, von der Familie weg zu sein. Natürlich gibt es auch Kinder, die nach Hause wollen.

Wenn es das Wohl des Kindes nicht beeinflusst, können die Eltern das Kind auch besuchen. Die Eltern bzw. das Elternteil kommt dann zu uns in einen Gemeinschaftsraum und kann dort ein bis zwei Stunden mit dem Kind verbringen. Ja nach Situation wird das dann von uns begleitet oder nicht.

In der Inobhutnahmestelle wird versucht, so gut wie möglich den Alltag des Kindes aufrechtzuerhalten. Die Kinder sollen weiter in die Schule gehen oder beispielsweise den Sportverein weiter besuchen. Wir machen momentan mit den Kindern Homeschooling. Es gibt auch eine geregelte Tagesstruktur. Unter der Woche gehen die Kinder in die Schule, dann gibt es Mittagessen, danach ist immer eine Stunde Ruhe. Dort soll jeder seine Zeit für sich selbst ohne Medien verbringen. Nachmittags werden Hausaufgaben gemacht und draußen gespielt. Danach gibt es noch Abendessen. Immer zwei bis drei Mitarbeitende sind im Dienst.

Die Inobhutnahme ist ein zentraler Notaufnahmebereich, d.h. wir sind eine Notaufnahme für Krisensituationen. Aus diesem Grund sollten die Kinder/Jugendlichen möglichst kurz bei uns sein. Das variiert im Normalfall zwischen einem Tag und vier Wochen.  

Nach der Inobhutnahme kommt das Kind im besten Fall in seine Familie zurück. Wenn alles geklärt ist, schreitet das Jugendamt auch nicht mehr weiter ein. Der Familie kann auch ambulante Hilfe angeboten werden. Kommt ein Kind nicht mehr in seine Familie zurück, zieht es meistens in eine betreute Wohngemeinschaft mit pädagogischen Fachkräften. Die meisten Kinder wohnen dort dann dauerhaft. Es ist nämlich so, dass eine gefestigte Lebenssituation herrschen muss, wenn das Kind therapeutische Hilfe benötigt. Kinder, die akute Fremd- und Selbstverletzung aufweisen, kommen in die Kinder- und Jungendpsychiatrie. Unsere Aufgabe in diesem Prozess ist es, das Kind auf den Umzug mental vorzubereiten und es über den Ablauf zu informieren. 

Kleiner Fakten Check:

Ambulante Hilfe: Die Mitarbeiter:innen gehen in die Familie rein bzw. die Familie geht in eine Einrichtung um Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Stationäre Einrichtung: Rund um die Uhr ist jemand im Dienst. Somit sind sie immer zu erreichen. Ein Beispiel dafür ist die Inobhutnahmestelle.

Wenn ein Kind zu uns kommt und Geschwister noch zuhause sind, prüft das Beratungszentrum die Situation der Geschwister. Es ist oft der Fall, dass die Situation der Geschwister eine ganz andere ist. Ist für die Geschwister die Situation nicht so akut, muss der Schutzauftrag vom Jugendamt auch nicht sofort in Anspruch genommen werden. Es wird auf jeden Fall nachgeforscht und geschaut, ob das Geschwisterkind zuhause bleiben kann. Oft ist es so, dass es dann am nächsten Tag zu uns kommt. Es werden auch Geschwister zusammen in Obhut genommen.

Was sind deine Aufgaben in der Inobhutnahmestelle?

Ich bin gerade überwiegend im Tagdienst tätig. Unter der Woche bin ich viel am Homeschooling beteiligt. Ich helfe den Kindern, leite sie an und motiviere sie auch, ihre Aufgaben zu erledigen. Ich bin für die Hilfe- und Koordination im Alltag zuständig, dazu gehört das Mittagessen und nachmittags mit den Kindern in den Garten gehen. Kleine administrative Dinge kann ich selber übernehmen, wie beispielsweise die Dokumentation von Detailsituationen und Situationen im Alltag. Auch begleite ich Telefonkontakte und dokumentiere hier auch gegebenfalls Auffälligkeiten. Meistens verbringe ich meine Zeit bei den Kindern. Ich finde es ist ein guter Mix aus „ich hocke eine halbe Stunde am PC und dokumentiere etwas“ und „ich bin tatsächlich am Kind“.

Welche Veränderungen gab es durch Covid-19?

Trotz Covid-19 finden noch Besuchskontakte statt. Es darf dann nicht die ganze Familie kommen, sondern nur 1-2 Familienmitglieder. Auch die Anzahl der Besuche ist minimiert worden. Die Kinder müssen z.B. im Treppenhaus ihre Maske anziehen. Untereinander haben die Kinder natürlich Kontakt. Wir Mitarbeiter:innen arbeiten nur mit Maske. Es ist auch so, dass wir im Büro den Abstand einhalten etc. Unsere Dienstbesprechungen finden online über ein Videokonferenztool statt. Wenn man die Situation allgemein vor der Pandemie mit jetzt vergleicht, kann ich nicht viel sagen, da ich erst im März angefangen habe. Meine Kollegin meinte allerdings, dass sie das Gefühl hat, dass eher weniger Kinder in Obhut genommen werden als vor Corona. Das kommt höchstwahrscheinlich davon, dass die Kitas und Schulen nicht mehr so regelmäßig besucht werden. Die Kindeswohlgefährdung wird deswegen nicht mehr so oft wahrgenommen. Auch haben die Kinder momentan weniger Möglichkeiten sich bei anderen zu melden.

Angenommen ich würde eine Kindeswohlgefährdung mitbekommen bzw. ich würde sie am eigenen Leib erfahren, wie könnte ich Hilfe holen?

Generell kann man immer die Polizei (110) anrufen. Die leitet es dann dem Jugendamt bzw. an die Inobhutnahme weiter. Man kann natürlich auch die Inobhutnahme anrufen, allerdings kommen die meisten da in einer Notsituation nicht darauf. Eine andere Möglichkeit ist, das Jugendamt direkt anzurufen. Diese nehmen den Fall auf und leiten ihn an die entsprechende Stelle weiter.

Stadt Augsburg Amt für Kinder, Jugend und Familie: 0821 3242800

SIA gGmbH (Sozialpädagogisches Institut der Augsburger Gesellschaft für Lehmbau, Bildung und Arbeit gGmbH): 0821 241370

Ökumenische TelefonSeelsorge Augsburg: 0800 111 0 111 und 0800 111 0 222

Stadt Augsburg / Beratungsstellen – Gewalt gegen Kinder: Kinderschutzbund Augsburg: 0821 455406 21 | anlaufstelle@kinderschutzbund-augsburg.de

© Anete Lusina via Pexels

Welche persönlichen Erfahrungen hast du bis jetzt in deinem Praxissemester gemacht?

Allgemein bin ich super zufrieden. Ich habe liebe Mitarbeiter:innen, ich fühle mich im Team total wohl. Es ist alles sehr offen und ich kann mich immer melden, wenn ich mich z.B. aus einer Situation zurücknehmen will oder auch wenn ich mehr mit eingebunden werden will. Von den Kindern habe ich auch positive Erfahrungen gesammelt. Ich habe das Gefühl, dass sich die meisten ganz gut auf mich einlassen können. Was ich momentan sehr schön finde ist, dass ein Kind, das schon länger bei uns ist und in dessen Leben es schon sehr viele Baustellen gab, sich immer mehr auf mich einlassen kann.

„Was mir generell wichtig ist, dass die Kinder in ihrem Alltag und in der Situation, in der sie gerade sind, trotzdem mit einer Leichtigkeit durchgehen können.“

 

Welche Voraussetzungen muss man deiner Meinung nach mitbringen, um bei der Inobhutnahme arbeiten zu können?

Ich würde sagen, um in der Inobhutnahme arbeiten zu können, muss man flexibel sein. Sowohl bezogen auf den Schichtdienst, als auch für Situationen im Arbeitsalltag. Es kann sich eine Situation innerhalb einer halben Stunde um 180 Grad drehen. Man muss eine gewisse Sicherheit in seinem Auftreten und Selbstsicherheit in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mitbringen. Eigenständiges Arbeiten ist sehr wichtig, dass man Initiative zeigt und dass man Aufgaben schnell und selbstständig lösen kann. Auch noch wichtig ist, dass man Konflikte aushalten kann. Man sollte nicht völlig Konfliktscheu sein, sondern man muss mit der belastenden Situation umgehen können. Man sollte auch viel Wissbegierde und viel Lernbereitschaft mitbringen. Eine gewisse Distanz zu den Situationen ist sehr hilfreich, dass man nicht alles emotional an sich ranlässt. Aber das kann man auch währenddessen lernen.

Unsere Reihe heißt „unsere stillen Held:innen“. Würdest du dich denn selbst als Heldin bezeichnen?

Generell würde ich sagen, dass die Kinder die eigentlichen Helden der Situation sind. Trotz schwierigen familiären Verhältnisse oder Situationen gehen sie mit einer Stärke heran und meistern die Situation. Ich persönlich würde mich nicht als Heldin bezeichnen. Oft sind wir für die Kinder oder auch die Eltern diejenigen, die für die schlimme Situation „verantwortlich“ sind. Natürlich gibt es auch Kinder, die sagen, dass sie uns vermissen werden. Da sie allerdings ja nur kurz bei uns sind und es einen ständigen Personalwechsel gibt, bauen sie keine starke Beziehung zu uns auf und das soll auch nicht der Fall sein. 

„Generell würde ich sagen, dass die Kinder die eigentlichen Helden der Situation sind.“

Vielen Dank Julia für das ausführliche und spannende Interview!

© PublicDomainPictures via pixabay

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