Die blaue Eminenz: Wie personalisierte Algorithmen den Wählerwillen formen

Die einst mit dem Internet verbundenen emanzipatorischen Hoffnungen sind schon seit einigen Jahren in den Hintergrund gerückt. Spätestens mit dem Sturm von Trumpanhänger:innen auf das Kapitol, dem Brexit-Referendum und den Datenskandalen um Facebook und Cambridge Analytica werden kritische Stimmen, um Demokratie und digitale Kommunikation immer lauter.

Die freie Willensbildung als Voraussetzung für die freie Wahlentscheidung

Der zentrale Gedanke der demokratischen Herrschaftsform ist, dass das Volk Träger der staatlichen Macht ist, da der Wille des Staates aus dem Willen des Volkes hervorgeht. Legitim kann ein solcher Willensakt allerdings nur dann sein, wenn er selbstbestimmt ist, also auf einem Prozess freier Meinungs- und Willensbildung beruht.

Jedoch gestaltet das Internet als zentrales Forum für den Austausch von Informationen und Meinungen die Dynamik des demokratischen Diskurses grundlegend neu, und zwar mit der durch leistungsstarke Algorithmen ermöglichten Methode, den Konsum, beziehungsweise vielmehr überhaupt den Zugang zu Informationen als solchen von den individuellen Eigenschaften des Nutzers abhängig zu machen. Ursprünglich erdacht, um die gigantische Datenmenge zu bewältigen gilt es die grundlegenden Voraussetzungen einer lebhaften Demokratie, auch im 21. Jahrhundert in der Bildschirmgesellschaft unter der Herrschaft des blauen “f”, nicht zu vergessen. 

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Öffentliche Meinung vs. Individualisiertes Informationsangebot

Die Demokratie lebt von und in einer funktionsfähigen öffentlichen Meinung, die als Forum der Information, Diskussion, Meinungsbildung und Verständigung dient. Jedoch tritt die immer genauere Personalisierung von angebotenen Informationen diesem Konzept entgegen: Nämlich wird die personalisierte Werbung im digitalen Raum nach dem Kriterium der individuellen Relevanz ausgewählt. Die Plattformbetreiber verfolgen das Ziel, die Nutzer:innen möglichst lange auf der jeweiligen Plattform zu halten, um diese Zeit zu kommerzialisieren. Dabei nutzen sie den Effekt, dass die Bestätigung der eigenen Weltsicht die Nutzer:innen länger auf der Plattform hält. In der Konsequenz führt die personalisierte Werbung also zu einem individualisierten Informationsangebot, dass sich auf ein minimales Spektrum verengt, welches die eigene Weltsicht immer wieder bestätigt. Das Problem, das hierdurch entsteht, ist – paradoxerweise – ein Informationsdefizit, dass die Herausbildung einer Vielzahl von nebeneinander existierender „Informationsblasen“ zur Folge hat. Besonders alarmierend ist, dass die Manipulation von Wähler:innen in diesem Zusammenhang eine bisher völlig ungekannte Dimension erlangen kann und neuerdings mit noch nie da gewesenen Effizienz als Waffe gegen die Demokratie gerichtet werden kann – das wurde und wird von russischen Hackergruppen wiederholt in schmachvoll-beeindruckender Weise unter Beweis gestellt.

Veranschaulichen ließe sich diese Problematik anhand des folgenden plakativen Beispiels: Man stelle sich vor, eine Person bekommt nur Informationen über die, in das Land strömenden Migrant:innen dargeboten. Ein gesitteter Austausch mit anderen, die keinerlei derartige oder gegenteilige Informationen erhalten, wäre wohl kaum denkbar. Da diese Erfahrung immer mehr Menschen teilen, will ich diesen Gedanken hier zur Grundlage einer gewagten These machen: Der im Netz vorgefundene Modus einer Personalisierung sämtlicher meinungsrelevanter Inhalte, stellt eine überragende Gefahr für die Demokratie dar. Dies fordert die Bürger in ungeahnter Weise zur kritischen Reflexion heraus.

Bestünde die Lösung in einem Verbot von personalisierten Inhalten?

Was können wir also tun? Nachdem die Europäische Union 2020 eigentlich personalisierte Werbung ganz verbieten wollte, wurden Anfang 2022 letztlich nur mehr Transparenzpflichten bezüglich personalisierter Werbung verabschiedet. Ein Tropfen auf den heißen Stein, angesichts der weitgreifenden destruktiven Wirkung von personalisierten Inhalten im Netz, die es zu unterbinden gegolten hätte.

Damit gilt es zu erkennen, dass die Interessen der Digitalkonzerne, die den Diskurs im Netz zwar erst ermöglichen, ihn über ihre Instrumente aber auch behindern, nicht denjenigen einer demokratischen Gesellschaft entsprechen und ihnen in vielen Punkten sogar diametral entgegenstehen.

Damit verbleibt zunächst einzig das Augenmerk auf die Sensibilisierung der Gesellschaft hinsichtlich der besonderen Gefahren durch Filtereffekte und Isolationseffekte im digitalen Raum zu legen. Auch die Idee, dass den Bürger:innen eine gewisse Grundskepsis, eine gewisse Distanz zu den im Internet empfangenen Informationen mitgegeben wird, erscheint wichtig, um den geschilderten Effekten entgegenzuwirken. In einer pluralen Gesellschaft gibt es nun mal nicht die „eine Wahrheit“ oder die „eine Lösung“ – diesen Gedanken gilt es besonders in der Netzöffentlichkeit zu stärken.

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