Das Sohnbeet

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Als ich eines Morgens aufwachte, pflanze meine Mutter eine Paprikapflanze in meinen Brustkorb. Ausgehöhlt und mit Erde befüllt war er schon, nur noch das Einpflanzen und das anschließende Eingießen fehlte. Müde rieb ich mir die Augen. Ich hatte ja nichts dagegen, dass meine Mutter gerne gärtelte, aber das ging doch wirklich zu weit. Sie hatte bereits ein Kräuterbeet, ein Frühbeet, ein Gemüsebeet, ein Blumenbeet und ein Hochbeet. Wozu brauchte sie also noch ein Sohnbeet? Irgendwo musste einfach die Grenze gezogen werden.

Ob sie nicht finde, dass das etwas makaber wäre, fragte ich.

Nichts dergleichen, meinte sie. Ich solle mich nicht so haben. Immerhin würde ich so etwas Sinnvolles tun. Einen Beitrag zur Ernährung der Familie leisten.

Ich erschauderte, als meine Mutter – nun fertig mit dem Einpflanzen – das kalte Wasser aus der Gießkanne über mich goss.

Wie sie sich das vorstelle, fragte ich ratlos. So müsse ich ja den ganzen Tag im Bett liegen bleiben.

Im Bett könne ich nicht bleiben, sagte sie. Die Pflanzen bräuchten Sonnenlicht, daher müsse ich raus in den Garten.

Die ganze Zeit?

Die ganze Zeit.

Und wenn es regne?

Dann würde ich gegossen werden.

Das könne sie doch nicht ernst meinen, rief ich empört. Wenn ich die ganze Zeit draußen sei, würde ich mich garantiert erkälten.

Meine Mutter lächelte nur traurig. Zusammen mit meinem Vater, der nun ebenfalls in der Tür stand und traurig lächelte, hievte sie mich auf eine Trage und trug mich in den Garten. Dort legte sie mich neben den Kirschbaum.

Ob ich zufrieden sei mit meinem Plätzchen, fragte sie.

Ich war tatsächlich sehr zufrieden mit meinem Plätzchen, war der Kirschbaum doch der Baum, den meine Mutter zur Feier meiner Geburt gepflanzt hatte. Allerdings hatte ich keine Lust zu antworten. Ich war immer noch zu wütend auf sie. Sie hätte mich ja zumindest fragen können, bevor sie mich in ein Beet verwandelt hatte.

Während ich so meinen trübseligen Gedanken nachging, streichelte meine Mutter sanft mein Haar.

Ich solle mir keine Sorgen machen, sagte sie. Das würde schon wieder werden.

Was würde schon wieder werden, fragte ich.

Ohne zu antworten, drehte sich meine Mutter um und ging.

Das war doch nicht auszuhalten! Gestern noch ein normaler Mensch, heute ein Paprikabeet. Was für eine Demütigung. Dazu noch von der eigenen Mutter aus dem Haus verbannt. Ich hätte am liebsten geweint oder geflucht oder wild um mich geschlagen, aber ich kontrollierte mich. Immerhin wuchs in meiner Brust etwas Lebendiges, für das ich Verantwortung trug. Ich seufzte und fügte mich meinem Schicksal.

Die Tage vergingen und es wurde langsam wärmer. Zu meiner Überraschung bekam ich keine Erkältung. Ich fühlte mich sogar sehr wohl draußen. Gelegentlich kam meine Mutter vorbei, um nach dem Rechten zu sehen und mich zu gießen. Die Paprikapflanze gedieh großartig in meiner Brust. Leiser Stolz erfüllte mich. Endlich gab es etwas, das ich gut machte.

Als ich dann eines Nachts die erste Frucht an meiner Pflanze erkannte, brüllte ich – vor lauter Freude – so laut, dass ich meine Mutter aus dem Bett scheuchte.

Was denn los sei, fragte sie entsetzt.

Begeistert zeigte ich ihr die kleine grüne Paprikaschote. Meine Mutter kniff die Augen zusammen – ohne Brille sah sie nämlich nicht so gut – und suchte die Pflanze ab, aber schließlich entdeckte sie die Schote.

Sehr schön, sagte sie müde. Ob das der Grund für mein Gebrüll gewesen sei?

Natürlich, sagte ich.

Um Himmels Willen, stöhnte sie. Sie habe schon gedacht, ich sei überfallen worden.

Gähnend schlurfte sie zurück ins Bett, doch meine Freude war unvermindert. Eine Paprikaschote. Das hatte ich erschaffen. Die ganze Nacht durch tat ich kein Auge zu, sondern bewunderte strahlend die kleine grüne Frucht, die da an mir wuchs.

Weiter vergingen die Tage, zur ersten gesellten sich weitere Schoten und schließlich wurden sie rot. Als dann endlich die erste Paprika geerntet werden konnte, war es bereits Hochsommer, dem Stand der Sonne und der Hitze nach zu urteilen.

Ein Prachtexemplar, sagte meine Mutter, die Paprikaschote in ihrer Hand bewundernd. Ob ich immer noch wütend sei, in ein Paprikabeet umfunktioniert worden zu sein, fragte sie.

Überhaupt nicht, meinte ich. Es gebe nichts Schöneres, als die Früchte der Arbeit mit eigenen Augen zu sehen.

Meine Mutter nickte anerkennend.

Trotzdem, fuhr ich fort, wüsste ich gerne, warum sie es getan habe.

Wieder lächelte sie nur traurig. Ein anderes Mal, sagte sie.

Mit der Zeit wurden die Paprikaschoten auf meiner Pflanze weniger und schließlich begannen die Blätter zu welken. Es war ein anstrengender Sommer gewesen. Ich hätte nie geglaubt, wie anstrengend es war, eine Pflanze wachsen zu lassen. Fast schon war ich froh, dass nun der Herbst nahte, der Ruhe versprach.

Als meine Mutter die letzte Schote pflückte, trauriger, als ich sie jemals gesehen hatte, fragte ich wieder, warum sie mich zu einem Paprikabeet umfunktioniert hatte. Jetzt, wo ich meine Arbeit getan habe, könne sie es mir doch sagen.

Wieder schüttelte sie nur den Kopf.

Warum sie so traurig sei, wollte ich wissen.

Ein anderes Mal, sagte sie und verschwand.

Doch es gab kein anderes Mal. In der folgenden Nacht kam der erste schwere Herbststurm des Jahres und meine Pflanze starb. Und mit ihr ich. Ich fiel in einen unruhigen Schlaf.

Als ich eines Morgens aufwachte, pflanzte meine Mutter eine Paprikapflanze in meinen Brustkorb.

Ausgeschlafen, fragte sie lächelnd ihren toten Sohn.

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