Drei Leben mit Depressionen

Der folgende Artikel enthält Themen wie Depressionen, Extremgedanken und Suizid. Wer Schwierigkeiten mit solchen Inhalten hat, muss selbstverantwortlich darüber entscheiden, ob er den Artikel lesen möchte.
Valentin Erhardt - Redaktion
Valentin Erhardt
Redakteur

Jeder Mensch fühlt sich beizeiten kaputt. Trennungen, Todesfälle, Streit mit geliebten Menschen, Verluste, Versagen, Schmerz… die Liste an Dingen, die einen unter den Nullpunkt der Stimmung reißen können, ließe sich ewig fortführen, bis jeder etwas Bekanntes auf ihr findet. Und irgendwann kommt man da wieder raus. Im Normalfall zumindest.

Dauern gedrückte Stimmung, Unfähigkeit zur Freude und Antriebslosigkeit jedoch an und existieren sie losgelöst von konkreten Schicksalsschlägen, spricht man nicht mehr von einem gewöhnlichen Ausschlag auf dem Gefühlsbarometer, sondern von einer Depression, einer psychischen Krankheit, die mit immensem Leidensdruck verbunden ist – bei manchen so groß, dass Ihnen Selbstmord wie eine sinnvolle Alternative erscheint.

Dieser Leidensdruck wird häufig von einer Vielzahl an Symptomen begleitet, die über die verschlechterte Stimmung hinausgehen: Betroffene können nicht mehr richtig schlafen, leiden an Panikattacken, fühlen sich schuldig oder wertlos, sehen keinen Sinn in ihrer Existenz und keine Hoffnung in der Zukunft. Die Symptome haben eine solche Bandbreite, dass sie im ICD-10 (ein weltweit anerkanntes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen) weit mehr als eine Kennnummer belegen: Beschreiben F33.0 bis F33.9 verschiedene Formen der rezidivierenden, ergo wiederkehrend episodischen Depression, vermischt sich die Krankheit in F41.1 mit den Symptomen einer Angststörung.

Valentins Zeichnung aus einer Downphase

Über das gesamte Feld der affektiven Störungen verstreut taucht das Wort „depressiv“ immer wieder auf, was es schwierig macht, das Krankheitsbild exakt zu umrahmen. Wie also eine Krankheit erkennen, die so viele Gesichter trägt?

Ich habe einen großen Teil meines Lebens damit verbracht, mich zu fragen, ob meine Gefühle in diesen Rahmen fallen oder nicht. Es hat lange Zeit gedauert, bis ich mir einen Therapeuten und damit fachfrauische Hilfe gesucht habe; noch länger, bis ich verstand, dass eine Therapie die Krankheit nicht magisch verschwinden lässt, sondern mir hilft, mit ihr zu leben. So zumindest meine persönliche Erfahrung.

Diese ist selbstverständlich nicht exklusiv, genauso wenig universell. Zur Gewinnung eines Überblicks und um andere Perspektiven kennenzulernen, habe ich mich mit zwei weiteren Personen ausgetauscht, die mir ihren Blickwinkel auf die Krankheit beschrieben haben.

Sandra ist 20 Jahre alt und befindet sich im zweiten Semester ihres Lehramtstudiums für Deutsch und Englisch. Seit etwa 5 Jahren hat sie depressive Phasen und leidet unter einer Sozialphobie, welche sich inzwischen jedoch auf Situationen mit größeren Menschenmassen beschränkt. Sie nimmt keine Medikamente und befand sich bisher in keiner therapeutischen Behandlung.

„Ich studiere Lehramt und habe mal gehört, dass es mit der Verbeamtung schwierig werden kann, wenn man einen Therapeuten von der Krankenkasse bezahlen lässt. Außerdem habe ich – wenn ich gerade nicht in einer depressiven Phase bin – das Gefühl, dass ich das sowieso nicht brauche und nur die Zeit des Therapeuten verschwenden würde.“

Die 19-jährige Sophie studiert Medien und Kommunikation im vierten Semester und kämpft mit mittelschweren Depressionen sowie einer Angst- und Zwangsstörung. Seit ihrer Diagnose 2019 hat sie verschiedene Antidepressiva verwendet und nimmt momentan Venlafaxin.

„Ich denke, das ist genauso wie bei Homosexualität: Früher war es ein Tabu und deshalb hat niemand darüber geredet, geschweige denn sich geoutet. Heute ‚gibt es mehr davon‘, weil die Akzeptanz zunimmt und mehr darüber geredet wird. Ich wusste zum Beispiel gar nicht, dass ich depressiv bin, bis ich die Diagnose bekam. Und ich glaube, so geht es einigen.“

Letzter in der Runde bin ich, Valentin, 20 Jahre alt und ebenfalls Medien und Kommunikationsstudent, allerdings erst im zweiten Semester. Seit meiner Pubertät leide ich an Ängsten und Depressionen, die kurz nach meinem Abitur 2019 auf ein bis dahin ungekanntes Ausmaß anstiegen. Seitdem befinde ich mich wegen einer Angststörung und Depressionen in Verhaltenstherapie; seit September letzten Jahres nehme ich Escitalopram.

„Das Problem ist, dass ich oft nicht gut auf Hilfsangebote reagiere. Ich werde schnell aggressiv, weil ich das Gefühl habe, dass andere auf mich herabblicken, und das kränkt mich, auch wenn mir bewusst ist, wie lächerlich diese Ansicht eigentlich ist. Klar, die meinen es gut und wollen mir helfen, aber in dem Moment fühle ich mich, als würde jemand durch meine Fassade blicken und erkennen, wie wertlos ich wirklich bin. Das reißt dann sehr tief, weil ich mich nicht nur gekränkt, sondern auch ertappt fühle.“

Drei Leben mit der Krankheit

Zuallererst interessierte mich, wie meine Gesprächspartnerinnen ihre Depressionen empfinden und welche Worte sie wählen würden, um sie zu illustrieren. Zu meiner Überraschung ergab sich aus unseren Beschreibungen ein recht einheitliches Bild: Während ich es mit dem Gefühl beschreibe, nach Hause zu wollen, obwohl man bereits zuhause ist, fühlt Sandra sich wie gefangen in einer Blase, die sie von der Wirklichkeit fernhält – jedoch nicht verhindert, dass sie diese wahrnimmt. Wir beschreiben alle ein Gefühl innerer Leere und Taubheit, Motivationsprobleme und aus der Handlungsunfähigkeit resultierende Selbstvorwürfe, die einen noch tiefer herabziehen. Wir wollen uns aufraffen, schaffen es aber nicht, und dafür verurteilen wir uns.

Sophies Zeichnung aus einer Downphase

Ähnlichkeiten bestehen auch in unseren Herangehensweisen, diesem Teufelskreis zu entkommen – das Stichwort lautet „Ablenkung“. Die Nuancen allerdings, in denen wir diese Ablenkung finden, unterscheiden sich: Während ich mich von der Außenwelt abkapsle, um meine Gefühle in Raptexte und Geschichten zu gießen, lenkt sich Sophie durch die Gesellschaft ihrer Freundin ab. Ein Umstand, den ich schlecht nachvollziehen kann, da ich sozialen Kontakt meide, wenn es mir schlecht geht. Wenn ich mich auskotze, weil ich es ohne nicht aushalten und durchdrehen würde, möchte ich dabei niemanden sehen, weder Eltern noch Freunde noch Freundin, und am allerwenigsten mich selbst. Sandra pflichtet mir bei, findet in der Gesellschaft ihres Freundes aber ebenso Trost wie Sophie bei ihrer Freundin.

Im Gegensatz zu mir spielen für die geistige Gesundheit der beiden auch Umgebung und Wohnsituation eine wichtige Rolle. Sandra beschreibt ihr familiäres Umfeld als schwierig, für psychische Probleme gibt es dort weder Platz noch Verständnis. Daher ist es ihr Ziel, so bald wie möglich auszuziehen und auf eigenen Beinen zu stehen, um einen weniger belastenden Alltag leben zu können und selbst über ihre Routinen zu entscheiden. Sophie hat diesen Schritt bereits getan und wohnt in einer WG, ihre Gründe sind ähnlich.

„Als ich noch daheim gewohnt habe, gings mir oft ziemlich beschissen. Das hatte nicht nur was mit der Familie zu tun, sondern auch mit der Schule und meinen damaligen Freunden, denke ich. Seit ich in meiner WG wohne, ist das auf jeden Fall besser. Wenn ich mal zuhause bin, merke ich, wie ich in alte Muster zurückfalle und es sich wieder so anfühlt wie während meiner Schulzeit… also doch, die Wohnsituation spielt eine sehr wichtige Rolle, würde ich sagen.“

~ Sophie ~

Einig sind sich die beiden auch darüber, dass es in solch einer Wohnsituation schwierig sein kann, das Leben in Balance zu halten; die angespannte Lage zuhause schadet der Psyche, Freizeit und Studium geraten in den Hintergrund. Geht man einmal zu Boden, wird es schwer, den Teufelskreis zu durchbrechen. Je höher sich die Aufgaben stapeln, desto größer wird der Stress, und desto weniger traut man sich zu, den wachsenden Berg zu bewältigen. Die krankhafte Antriebslosigkeit macht es beinahe unmöglich, den Klausurstoff tatsächlich zu lernen, statt dem Stress darüber nachzugeben, dass man ihn nicht beherrscht. Das hört auch dann nicht auf, wenn wir uns zum Lernen aufrappeln, nicht einmal, wenn es zeitlich knapp wird.

Als Quelle des Drucks sehen Sandra, Sophie und ich dennoch in erster Linie uns selbst.

In der heutigen Zeit sind psychische Krankheiten bereits als Thema in der Gesellschaft angekommen, wir haben das Glück, sowohl Offenheit als auch (mindestens oberflächliche) Akzeptanz zu erleben und müssen seltener als vergangene Generationen ein „Schluck es einfach runter“ hören. Hinzu kommt, dass Personen wie wir drei definitiv keine Einhörner sind – der Ausdruck „Volkskrankheit Depression“ ist nicht aus der Luft gegriffen. Schenkt man den Daten der Deutschen Depressionshilfe Glauben, so leiden allein in Deutschland 5,3 Millionen Menschen zwischen 18 und 79 Jahren an der Krankheit; eine Dunkelziffer ist kein abwegiger Gedanke.

Sandras Zeichnung aus einer Downphase: "Who will fix me now? Save me from myself"

Und wie allem im Leben haften unserer Zeit mehrere Nachteile an. So gut es ist, dass die Psyche kein gesellschaftliches Tabu mehr ist, so hinderlich ist die Natur des Menschen, sich mit Dingen zu identifizieren. Ich kann es drehen und wenden, wie ich will, Depressionen scheinen mir ein gewisses Ideal geworden zu sein, zumindest in romantisierter Form und erhoben zum Beweis seelischer Tiefe. Musiker unserer Generation produzieren einen schizophrenen Mix aus wilder Feierei und „Mir geht’s schlecht“-Musik, Künstler wie Billie Eilish oder Lil Peep erklimmen mit depressiver Stimmung Chartspitzen.

Das soll nicht heißen, dass dies unberechtigt wäre. Selbstverständlich weiß man nie, wie es im Inneren eines Gegenübers aussieht, und wenn jemand nicht depressiv ist, sind dessen negative Emotionen dadurch nicht weniger valide oder ernst zu nehmen. „Depressionen“ sind kein exklusiver Club, in den niemand außer den „wirklich richtig Kranken“ reindarf, zumindest würde ich das nicht behaupten. Auf der anderen Seite erschwert die Allgegenwärtigkeit des Themas, sich selbst und andere Menschen korrekt einzuschätzen. Wenn jeder von sich behauptet, depressiv zu sein, weil er manchmal traurig ist, wer ist denn dann nicht depressiv? Und welche Menschen in meinem Leben laufen Gefahr, sich selbst zu verletzen oder umzubringen?

Einen weiteren Tribut zollen wir unserem Sozialleben, das sich seit einem Jahr überproportional im multimedialen Dschungel abspielt. Ich brauche den Elefanten im Raum nicht beim Namen zu nennen, wir alle haben die Nase gestrichen voll von ihm. Los werden wir ihn aber auch nicht, also bringen wir es hinter uns.

Sandra und ich befinden uns im zweiten Semester und haben noch nie einen Lehrsaal von innen gesehen. Die meisten Kommilitonen kennen wir nur durch Webcam und Whatsapp, die Uni nur als vage Institution in der Ferne, die uns Vorlesungen und Aufgaben zuschickt. Beide haben wir uns zu Beginn der Pandemie wenig eingeschränkt gefühlt, weil wir Stubenhocker sind, doch mittlerweile macht der fehlende Kontakt sich bemerkbar. Gerade dann, wenn man allein ist, treffen Angst und Einsamkeit besonders schmerzhaft.

Sophie steht der Situation positiver gegenüber, sie sieht Vor- und Nachteile. Zwar vermisst sie es, ihre Freunde an der Universität zu sehen und sich durch den sozialen Kontakt ablenken zu können, die Beschäftigung mit sich selbst und gemeinsame Zeit mit ihrer Freundin gaben ihr dafür die Möglichkeit, ihren eigenen Kopf verstehen zu lernen. Insgesamt geht es ihr besser, als sie erwartet hätte.

Dennoch wünscht sie sich ein Ende des Spuks, genau wie Sandra, ich und vermutlich jeder andere da draußen. Um wieder eine Wahl zu haben über die Gestaltung des Alltags, und um soziale Kontakte sorglos pflegen zu können, ohne Gedanken an gesetzliche Einschränkungen und gesundheitliche Risiken. Zumindest in dieser Hinsicht hatte Corona etwas Gutes: Mittlerweile verstehen wir alle, wie wichtig ein funktionierendes Maß an Gesellschaft für unsere Gesundheit ist.

2 thoughts on “Drei Leben mit Depressionen”

  1. Respekt an die drei Personen, die so mutig waren über ein derartig persönliches Thema so offen und ehrlich zu sprechen.

  2. Obwohl es um Depressionen geht, trage ich am Ende des Artikels ein Lächeln auf den Lippen. Der hat mich wirklich berührt, danke dafür.

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