„Schon Studierende müssen das auf dem Schirm haben“: In Augsburg werden Schwangerschaftsabbrüche Teil des Studiums

Weder im Studium noch in der Facharztausbildung ist das Erlernen von Schwangerschaftsabbrüchen verpflichtender Teil des Lehrplans. Im neu gegründeten Modellstudiengang in Augsburg wird das Thema behandelt werden, sagt der Inhaber des Lehrstuhls für Frauenheilkunde, Christian Dannecker. Medizinstudierende, die sich als Medical Students for Choice organisieren, fordern noch mehr.

Diese Recherche ist Teil einer Kooperation von presstige mit FragDenStaat und CORRECTIV.Lokal. Das Netzwerk setzt datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit Lokalredaktionen um. Zusammen wurden mehr als 300 öffentliche Kliniken zu Abtreibungen befragt. Die Ergebnisse stehen in einer Datenbank mit weiteren Infos online unter correctiv.org/schwangerschaftsabbruch.

Medical Students for Choice organisiert auch Demonstrationen in Augsburg mit, hier am Rathausplatz. Foto: Medical Students for Choice

Wenn eine Frau eine Schwangerschaft abbrechen möchte, muss sie manchmal über 50 Kilometer weit fahren. Es kann sein, dass sie einige Wochen auf einen Termin warten muss oder dass es Probleme bei der medizinischen Versorgung gibt. Manchmal hört sie abschätzige Kommentare des medizinischen Personals, noch während des Abbruchs.

Von solchen Bedingungen und Erfahrungen berichten einige der 1.297 Befragten, die bei der nicht-repräsentativen Umfrage von CORRECTIV.Lokal mitgemacht haben. Alle von ihnen ließen selbst mindestens einen Schwangerschaftsabbruch in den letzten 15 Jahren durchführen.

In Bayern berichtete jede Dritte Befragte, dass sie mehr als 50 Kilometer zu einer Praxis oder Klinik fahren musste. Es habe Probleme bei der medizinischen Versorgung gegeben, sagten deutschlandweit ebenfalls 30 Prozent. Fehlende Aufklärung zum Beispiel, eine fließbandmäßige Abfertigung, fehlende Privatsphäre oder Abbrüche, die unsauber durchgeführt wurden. Schließlich gab jede vierte Person an, dass sich medizinisches Personal im Zusammenhang mit ihrem Schwangerschaftsabbruch unprofessionell verhalten habe. Von Druck, die Schwangerschaft fortzuführen, ist da die Rede, sogar von Beleidigungen oder Demütigungen.

Das muss sich ändern, findet Katja Gessner. Und: Das geht nur, wenn Schwangerschaftsabbrüche schon im Studium thematisiert werden. Die 21-jährige ist Mitglied der Gruppe „Medical Students for Choice Augsburg“ und studiert hier selbst Medizin im fünften Semester.

„Das wird an der Uni Augsburg so sein“, sagt Prof. Dr. med. Christian Dannecker, Direktor der Klinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe am Uniklinikum und Inhaber des Lehrstuhls für Frauenheilkunde an der Medizinischen Fakultät, auf Nachfrage von presstige. Er selbst wird ein Seminar zu diesem Thema geben, im neunten Semester, 45 Minuten. Er sagt aber auch: Die Versorgungslage kann derzeit als ausreichend angesehen werden, abhängig davon, welche Distanz die schwangere Person zur Praxis oder Klinik, in der die Abtreibung durchgeführt wird, zurücklegen muss. Und Schwangerschaftsabbrüche seien sowieso Teil der gynäkologischen Facharztausbildung.

Braucht es Interessengruppen wie die Medical Students for Choice dann überhaupt?

Weder im Studium noch in der Facharztausbildung sind Schwangerschaftsabbrüche Pflicht

Der Hintergrund: Im Medizinstudium gibt es kein festes Curriculum, das jede Uni gleich umsetzt. Vielmehr orientiert sich das Studium an einem Gegenstandskatalog, auf dem die ärztlichen Staatsexamen basieren. Laut diesem, vom Institut für medizinische und pharmazeutische Prüfungsfragen (impp) herausgegebenen, kompetenzbasierten Gegenstandskatalog, sollen Absolvent:innen in der Lage sein, „die Prinzipien eines Schwangerschaftsabbruches [zu] beschreiben“ und sich mit den ethischen, rechtlichen und psychischen Aspekten des Themas auseinandergesetzt haben. Jede Universität darf selbst entscheiden, wann und wie das Thema behandelt wird.

So ist das auch bei anderen medizinischen Themen. Viele Behandlungen werden außerdem erst in der Facharztausbildung und nicht schon im Studium thematisiert. Also kein Problem, oder? Doch, sagen Expert:innen für Frauengesundheit und Aktivist:innen. Denn ein Schwangerschaftsabbruch ist auch kein verpflichtender Teil der Facharztausbildung in Gynäkologie. Und: Je weniger Ärzt:innen es gibt, die Abbrüche durchführen, desto unwahrscheinlicher wird es für angehende Gynäkolog:innen und Allgemeinmediziner:innen, diese Praxis zu erlernen.

Laut Prof. Dannecker lernt trotzdem fast jeder Arzt und jede Ärztin in der Facharztausbildung die Praxis eines Schwangerschaftsabbruchs. Dabei gibt es jedoch medizinische und soziale Unterschiede in der Behandlung einer Frau, die aufgrund einer medizinischen oder kriminologischen Indikation ihre Schwangerschaft beendet – also, weil ihre Gesundheit gefährdet ist oder sie durch eine Vergewaltigung schwanger wurde. Diese Fälle machen unter vier Prozent der jährlich stattfinden 100.000 Schwangerschaftsabbrüche aus.

Die restlichen der mehr als 96.000 Fälle finden nach sozialer Indikation statt, also aufgrund der Entscheidung der Frau, nach einer Beratung und innerhalb der ersten 12 Schwangerschaftswochen. Lernt ein Arzt oder eine Ärztin an einer Klinik, die Abbrüche nur nach medizinischer Indikation oder nach Fehlgeburten durchführt, bedeute das nicht, dass er oder sie auch mit einer sozialen Indikation umgehen kann, findet Katja.

Sie wünscht sich, dass auch der Umgang mit Patientinnen bei einem Schwangerschaftsabbruch gelehrt wird. Augsburg sei dafür aufgrund seines Status als Modellstudiengang sehr gut geeignet, sagt die Studentin. Vor allem auf den kommunikativen Aspekt des Arztdaseins werde viel Wert gelegt. So üben die Studierenden diesen schon früh mit Hilfe von Schauspieler:innen. Und auch die praktischen Einheiten mit erstem Kontakt zu Patient:innen erfolgen bereits in den ersten Semestern.

Schon Studierende sollten für die Situation sensibilisiert werden

Ein anderer Grund, warum das Thema schon während des Studiums behandelt werden sollte: „Damit die Studierenden das schon auf dem Schirm haben“, sagt Katja. „Es muss klar werden, dass das ein Eingriff ist, der oft durchgeführt wird und dass hier eine Versorgungslücke besteht.“ So können sich Studierende auch bewusst entscheiden, wo sie ihre Facharztausbildung absolvieren. Aktuell gibt es keine Praxis und keine Klinik in Augsburg, die einen Schwangerschaftsabbruch nach sozialer Indikation durchführt. Die meisten Betroffenen fahren nach München. „Das ist erschreckend“, sagt Katja. „Wenn man sich überlegt, dass diese Frauen oft in einer finanziell prekären Lage sind, oft schon Kinder haben und unter der psychischen Belastung leiden, ungewollt schwanger zu sein, wird klar, wie schlecht es um die aktuelle Versorgungslage bei uns steht.“ 

Herr Prof. Dannecker gibt jedoch zu bedenken, dass es in Deutschland keinen „Abtreibungstourismus“ gebe, der Frauen in bestimmte Regionen reisen lasse. Stattdessen könnten die meisten schwangeren Personen, die abtreiben wollen, den Schwangerschaftsabbruch in ihrem eigenen Bundesland durchführen lassen. Dass die Fahrt von Augsburg nach München ein Argument für die herrschende Versorgungslücke ist, hält er dennoch für nachvollziehbar.

Für die medizinische Ausbildung klingt es nach einem Teufelskreis: Wenn immer weniger Ärzt:innen Abbrüche durchführen, gibt es immer weniger Möglichkeiten für deren professionellen Nachwuchs, diese Praktik zu lernen. Dabei stelle die fehlende praktische Übung die größte Hürde für Ärzt:innen dar, selbst Abbrüche vorzunehmen, berichtet der Arbeitskreises Frauengesundheit aus einer unveröffentlichten Studie. Die Ergebnisse der Recherchen von CORRECTIV sprechen ebenfalls dafür, dass die Ausbildung verbessert werden sollte, sowohl im Umgang mit Patient:innen als auch medizinisch. In Deutschland werden beispielsweise immer noch Ausschabungen durchgeführt – 2020 waren es 12 Prozent der Abbrüche – eine Prozedur, die für die Gesundheit von Frauen gefährlicher ist als andere Methoden. Ein Leitfaden für sichere Abbrüche, der Ausschabungen verbietet, fehlt bisher. Bundesärztekammer und Bundesministerium für Gesundheit, noch unter der Leitung von Jens Spahn, stellten einen solchen jedoch in Aussicht.

Wie soll es in Zukunft weitergehen?

Es müssen dringend Stigma und Vorurteile gegenüber dem Thema abgebaut werden, finden die Medical Students for Choice. Denn auch Ärzt:innen, die dafür ausgebildet sind, würden sich aufgrund von Hass- oder Drohnachrichten manchmal nicht trauen, Abbrüche durchzuführen. Einige Praxen in Bayern finden keine Nachfolger:innen, obwohl der praktizierende Arzt schon seit Jahren in Rente gehen möchte. Deswegen fordert die Gruppe die Abschaffung des Paragrafen 218 und damit die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen. Denn „Lehre, Recht und Versorgungslücke gehen Hand in Hand”, sagt Katja. Die Gewissensentscheidung, nach der sich Ärzt:innen gegen die Durchführung der Praktik entscheiden dürfen, würde, wie bei anderen Behandlungen auch, bestehen bleiben.

Am Uniklinikum wird ein neuer Medizincampus errichtet. Foto: Anne Eberhard

Des Weiteren sieht die Gruppe Medical Students for Choice, wie auch Doctors for Choice und die Arbeitsgemeinschaft für Frauengesundheit, das Uniklinikum in der Pflicht, gezielt Ärzt:innen einzustellen, die Abbrüche durchführen. Einen etwas anderen Ansatz, der allerdings in dieselbe Richtung geht, schlägt auch Prof. Dannecker vor. Er findet, dass das Uniklinikum Augsburg durch die ständig wechselnden Teams zu unpersönlich ist, um einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen und adäquat zu begleiten. Er schlägt deshalb vor, über die Einführung bestimmter Spezialpraxen für Abtreibungen zu diskutieren.

Katja hat das Gefühl, dass sich gerade wirklich „etwas tut“ in Augsburg. Vor allem durch die Vernetzung mit anderen aktivistischen Gruppen bekomme das Thema mehr Aufmerksamkeit, sagt sie. Die Verankerung von Schwangerschaftsabbrüchen im Curriculum ist für sie ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.

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